Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li: Innere Übungen zur Stärkung der Lebensenergie (German Edition)
Wirkung entfalten kann, müssen wir unser Bewusstsein auf die »Welt« des Qi Gong einstellen, also eine uns zunächst fremde Weltauffassung »integrieren«, ohne in die Falle einer Regression auf eine frühere strukturelle (magisch-mythische) Stufe des Bewusstseins zu geraten.
Die Inhalte der Tradition des Qi Gong müssen aus dem Chinesischen übersetzt werden. Falls wir darunter verstehen, dass eine Weltauffassung in eine andere Weltauffassung »übersetzt« wird, ist das Missverständnis programmiert. Also bleibt uns gar nichts anderes übrig, als den scheinbar sicheren Boden überkommener Überzeugungen zu verlassen und Intuition und Intellekt für eine wesentlich umfassendere und vertiefte »Wahrnehmungsbereitschaft« zu öffnen.
Wahrnehmungsbereitschaft ist die Neigung von Menschen und Tieren, sich auf eine bestimmte Art des Wahrnehmens einzustellen oder bestimmte Wahrnehmungen zu erwarten – und diese Erwartungen bestimmen dann bis zu einem gewissen Grad, was tatsächlich wahrgenommen wird. [16]
Ein »kontextgebundenes Glaubenssystem« nennt der Wissenschaftler Jeremy Hayward unsere Weltauffassung.
Unsere Überzeugungen und Wahrnehmungen bilden also ein eng verklammertes System gegenseitiger Bedingung und Verstärkung, so dass wir nicht nur, wie so oft, sagen können: Das glaube ich erst, wenn ich es sehe, sondern auch: Das sehe ich erst, wenn ich es glaube. Wir nehmen nur wahr, wovon wir glauben, dass es vorhanden ist, und wir nehmen es nur so wahr, wie es unserer Überzeugung nach ist. [17]
Yi Qi Gong, das »Stille Qi Gong«, bezieht sich auf jene Form von Qi Gong, die mit Imagination, Visualisation, Vorstellung, willentlicher Steuerung verbunden ist. Die Wahrnehmungsbereitschaft muss also mit der Überzeugung (einer relativen Überzeugung, die auf einem Vertrauensvorschuss beruht) verbunden sein, dass das unsichtbare Qi, die unsichtbaren Kanäle und die Möglichkeit, das Qi durch die Vorstellung innerhalb dieser Kanäle zu steuern, tatsächlich existieren. Dass diese Annahme nicht willkürlich ist, verbürgt die lange Tradition – die schriftlichen Hinterlassenschaften derer, die mit dieser Methode erfolgreich gearbeitet haben, die mündlichen Überlieferungen und die Aussage der in dieser Tradition ausgebildeten Lehrmeister.
Diese »offene« Wahrnehmungsfähigkeit beruht auf einem aufmerksamen »Geschehenlassenkönnen«, ohne sofort beurteilend und kategorisierend einzugreifen. Doch dieses Geschehenlassen ist ohne Zweifel unser größtes Problem. Der moderne Abendländer begreift sich als »Tatmensch«. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, fragen wir: »Was soll ich tun?« Kaum jemand wird auf den Gedanken kommen zu fragen: »Was soll ich lassen?« Wenn wir ausruhen wollen von all dem Tun, müssen wir etwas anderes tun, um uns zu erholen. Selbst einen natürlicherweise so rezeptiven Vorgang wie das Einatmen bezeichnen wir als »Atemholen«. Auf der anderen Seite und völlig unvereinbar steht das »Nichtstun«, negativ besetzt als nutzlos, langweilig und geradezu unmoralisch. Eine Verbindung beider Seiten zu einem mittleren Zustand, dem »aktiven Geschehenlassen«, können wir uns kaum vorstellen.
Unser Umkreisen des Problems mit Mitteln der Philosophie und der Kognitionswissenschaft soll helfen, unsere Fixierungstendenzen aufzudecken und in Frage zu stellen. Gleichzeitig damit, dass wir den Finger auf einen Mangel legen, soll jedoch auch die mögliche Fülle angesprochen werden. Die Erfahrungen, die durch die Qi-Gong-Praxis angeregt werden, sind vielfältig und spielen sich sowohl auf der körperlichen als auch auf der geistigen Ebene ab. Als »geistige« Ebene bezeichne ich hier diejenige, auf der sich unsere Erfahrungen in Bildern, Gemütszuständen und Einsichten ausdrücken. Vor allem bildhafte Eindrücke (spontane imaginative Bilder) und emotionale Zustände wie Euphorie, Beglückung oder Angst gehören neben rein körperlichen Empfindungen wie Wärme, Kälte, Schmerz, Jucken, Kribbeln, Zittern, Schütteln oder spontane Bewegungen zu möglichen Phänomenen bei der Qi-Gong-Praxis.
Ein besonderes Problem entsteht beim Umgang mit den inneren Bildern. Das allem zugrunde liegende Qi, das durch Qi-Gong-Übungen in Bewegung gesetzt und angereichert wird, aktiviert und reguliert sämtliche psychophysischen Funktionen in einer ausgleichenden Weise. Wo Qi fehlt, wird es zugeführt, wo es gestaut und zu viel davon angesammelt ist, wird es in Fluss gebracht und verteilt. Davon ist auch die
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