Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li: Innere Übungen zur Stärkung der Lebensenergie (German Edition)
nicht mehr die untergeordnete Rolle spielen, die ihnen in den patriarchalen Kulturen und damit auch in der chinesischen Tradition zukam. Unsere abendländische Kultur befindet sich ja auch im Hinblick auf die Rollen der Geschlechter in einer Auflösungs- und Übergangsphase. Es liegt in unseren Händen, die Energie dieser Wandlungsphase in die Richtung der Entwicklung einer integralen Kultur zu lenken, in der »patriarchal« und »matriarchal« als starre, extrem dualistische Positionen durchschaut und erlebt werden, die abzulösen sind durch eine gegenseitige Ergänzung anstrebende dynamische Form. Die Art der Vermittlung, die Atmosphäre des Lehrens und die Formen der Lehrer-Schüler-Beziehung werden durch einen größeren Einfluss des weiblichen Prinzips eine ganz natürliche Veränderung und Neugestaltung erfahren.
Qi Gong ist ein sehr altes und erprobtes System der körperlich-geistigen Selbstheilung und Heilung, ähnlich einem alten, erprobten Kochrezept. Die Mahlzeit kochen wir jedoch jedes Mal neu, und wirklich gut wird sie nur dann, wenn Rezept, Erfahrung und Kreativität zusammenkommen. Wir können uns Qi Gong nur zu eigen machen, wenn wir »ganzheitlich« damit umgehen. Diese Ganzheitlichkeit würde gestört, wenn wir uns aus dem unvertrauten Material nur das herauspicken würden, was sich am besten in unser vertrautes Wahrnehmungssystem einfügen lässt, und alles andere, das weniger passt, wegließen. Ebenso wenig sinnvoll wäre es jedoch auch, sich kopfüber in das Fremde zu stürzen und zum »Qi-Gong-Freak« zu werden. Ein jeder muss seinen eigenen Schatz an Erfahrung sammeln, mit dem angemessenen Respekt für das Rezept und der Würdigung der eigenen Intelligenz und Kreativität.
Die hier angeführten Überlegungen bildeten den Weg, der mich zu einer Idee von der Art und Weise führte, wie ich dieses Buch gestalten könnte. So wird dieser Versuch, die Welt des Qi Gong vorzustellen und zugänglich zu machen, ein Umkreisen sein, ein Tasten in der Vielfalt der Berührungspunkte, eine Huldigung an die Weisen der Vergangenheit und unsere eigene, noch zu erschließende Weisheit.
Erster Teil Die Tradition der Arbeit mit dem Qi
»Taiji, Yin und Yang sind voller Geheimnis. Wenige Menschen wissen vom Pfad der Unsterblichkeit. Wenn Sterbliche in dieser Welt dem Tod entgehen wollen, müssen sie ihr Leben verlängern, Öl in die Lampe geben und die Große Harmonie bewahren.« [20]
»Das Kultivieren der Stille«
Modernes und traditionelles Qi Gong
Warum wird das Bereiten des Elixiers
das »Wiederherstellen des Elixiers« genannt?
Sind die Fünf Energien getrennt,
so besteht eine jede für sich.
Verstehst du den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen,
dann verbinden sie sich wieder.
Körper und Geist sind unerschütterlich,
sie bilden ein einziges Ganzes. [21]
Qi Gong ist ein Begriff, der erst seit den fünfziger Jahren Verwendung findet und heute die Gesamtheit der traditionellen und modernen Methoden der chinesischen Energiearbeit umfasst. Die Methoden des Qi Gong, wie sie heute in den vielen verschiedenen Qi-Gong-Schulen Chinas und von Meistern im Osten und Westen gelehrt werden, sind zum Teil ganz neue Entwicklungen, doch haben sie ihre Wurzeln in der jahrtausendealten Tradition der Arbeit mit der »vitalen Energie« Qi. In der Tradition wurden hauptsächlich die Begriffe Yangshen (»Pflege des Lebens«) und Daoyin (»Übungen des Dehnens und Leitens«, heute die Bezeichnung für Selbstmassage) verwendet.
Die Tradition dieser ganzheitlichen inneren Pflege von Körper und Geist wurde hauptsächlich in den taoistischen und buddhistischen Klöstern des alten China überliefert (unter dem Einfluss des Buddhismus entstanden taoistische Klöster für Mönche und Nonnen nach buddhistischem Vorbild). Während im modernen Qi Gong vor allem der medizinische Aspekt betont wird, hatte die in den Klöstern und Einsiedeleien gepflegte »Innere Kunst« eine umfassendere Zielsetzung. Gesundheit und langes Leben wurden nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern als notwendige Voraussetzung für eine möglichst weitgehende spirituelle Entwicklung vom »potenziellen Menschen« zum »vervollkommneten Menschen« betrachtet, eine Orientierung, die beide Traditionen – die taoistische und die buddhistische – miteinander teilten. Angesichts dieses hohen Zieles hatte die in den spirituellen Weg eingebettete Energiearbeit einen eher elitären Charakter und unterlag einer strikten Geheimhaltung. Nur
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