Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li: Innere Übungen zur Stärkung der Lebensenergie (German Edition)
nicht wahrgenommen, bleibt es weitgehend beim Rohzustand; der Mensch bleibt, könnten wir vielleicht sagen, auf der Jing-Ebene, der Ebene grober Energie hängen, näher dem Säugetieranteil der menschlichen Existenz als dem »vervollkommneten Menschen« (der nach östlicher Auffassung unserer menschlichen Existenz ebenfalls immanent ist, aber erst »ent-« oder »ausgewickelt« werden muss).
Qi
Wenn Qi als Überbegriff gebraucht wird (Jing wird in manchen Darstellungen auch als Jing-Qi oder Yuan-Qi bezeichnet), ist damit die grundlegende »Lebenskraft« gemeint, die das gesamte Universum durchdringt, die jeglichem Leben zugrunde liegt und die Ordnung der Sternensysteme im Universum bedingt. Die Differenzierung in die Drei Schätze ist in diesem Fall sekundär. Sie wird nur für die praktischen Zwecke der Medizin und der Energiearbeit benutzt.
Das Jing ist im Qi bewahrt und trennt sich von ihm nur durch äußere Einwirkung (durch Samenerguss, Verletzungen und Krankheit). Zugleich ist es die Quelle des »Wahren Qi«, das durch die Veredelung von grobem Jing zu subtilem Jing erzeugt werden kann.
Aus dieser Sicht der praktischen Anwendung ist Qi der aktive und subtilere Aspekt der allumfassenden ursprünglichen Energie; es ist der Impuls aller Bewegung, oder man könnte auch sagen, es ist die Bewegung selbst. Qi hält die lebendigen Prozesse im Körper in Ordnung, wärmt, bewahrt und schützt. Es sorgt für den Ausgleich von Yin und Yang, von Leere und Fülle. Es manifestiert sich auf körperlicher wie auf geistiger Ebene, vernetzt beide, ist, je reichhaltiger und ausgewogener, umso belebender, inspirierender (lat. spirare = hauchen, atmen, leben).
Qi ist der »spätere Himmel«, die Sonne in ihrem Glanz, ihrer Bewegung und ihrer vollen Kraft, das Offenbargewordene. Wie das Licht der Sonne ist es von außerordentlicher Macht, verwandelnd, durchdringend und rein. Es ist ursprüngliche universale oder kosmische Energie; auf der Ebene der individuellen Existenz muss es von der groben Manifestation zur feineren veredelt werden.
Ein zeitgenössischer chinesischer Autor und Lehrer der Inneren Kunst, Huai Chin-Nan, bringt das Fühlen in unmittelbare Verbindung mit dem Qi:
Fühlen ist der spätere Himmel mit ununterbrochener Verwandlung. Der erste und grundlegende Erfolg der Kultivierung beginnt mit dem Fühlen, kehrt zurück zu Fühlen und Wahrnehmung und mündet in einen Zustand der Einswerdung. Es gibt keine Möglichkeit der Kultivierung ohne das Fühlen. Man sollte verstehen, dass das Öffnen von Ren Mai und Du Mai [38] und aller anderen zusätzlichen Meridiane das Ergebnis der Entwicklung des Fühlens ist. [39]
Das erworbene Qi ist die verfeinerte Ausstrahlung des Jing und nährt wiederum Shen, die – noch feinere – Ebene der geistigen Funktionen. Die natürliche Anlage zur ständigen Verwandlung von Jing zu Qi zu Shen wird durch die Praxis des Stillen Qi Gong angeregt, beschleunigt und verstärkt. Normale Bewegungs- und Atemübungen ohne Berücksichtigung des Qi sind nur an der körperlichen Ebene orientiert und wirken hauptsächlich auf dieser. Die subtilen Formen des Inneren Qi Gong wirken hingegen selbst dann, wenn die Orientierung nicht über die körperliche Ebene hinausgeht, bis zu einem gewissen Maß auch im Bereich des Geistigen; in umso stärkerem Maße natürlich, wenn die Orientierung diesen Bereich miteinbezieht.
Shen
Shen ist Qi auf der Ebene der geistigen Funktion, die Fähigkeit, die sinnlichen Wahrnehmungen und Emotionen zu interpretieren, die Fähigkeit zu beobachten, zu unterscheiden und zu entscheiden, zu analysieren und Schlüsse zu ziehen – diejenigen Funktionen, die unsere begriffliche Welt gestalten. Durch die Kultivierung des Qi gewinnt Shen an Kraft. Die Emotionen – die »berauschenden geistigen Gifte« – werden leichter kontrollierbar, der Geist wird aufnahmefähiger, die natürliche Intelligenz kann sich entfalten, kreative Denkprozesse werden freigesetzt; die nötigen Voraussetzungen für klare Einsicht werden so geschaffen. Dieses Nähren des Shen hat wiederum eine Rückwirkung auf die übrigen Ebenen: Der Entschluss zur überlegteren und sinnvolleren Lebensführung fällt leichter, und auch die Praxis des Qi Gong wird durch diese Rückwirkung lockerer, natürlicher und auf eine selbstverständliche Weise disziplinierter.
Die Beschreibungen der drei Schätze müssen als Annäherungsversuche betrachtet werden, als ein Anstoß für ein Verstehen, das nur auf dem
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