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Das Stockholm Oktavo

Das Stockholm Oktavo

Titel: Das Stockholm Oktavo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Engelmann
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sie saß vollkommen still, und ihre Augen waren erneut geschlossen.
    »Was tut sie da?«, fauchte der Diakon.
    Ich drehte mich zu ihm um. »Sehen Sie denn nicht, dass sie krank ist?«
    »Das ist keine Krankheit, das ist das Böse!«, schrie er, kam zu unserer Bank und packte mich am Rock. Aber Madame Sparvs Augen waren nun geweitet, sie blickten kreuz und quer vom Boden an die Decke. Ihr Mund stand offen, ihre Zunge schnellte heraus und rollte sich um ihr Kinn, als wollte sie aus ihrer Kehle fliehen. Die Energie der Vision, die ihren Geist erfüllte, ließ ihren Kopf wackeln, und ein ersticktes Stöhnen kam aus ihrem Mund; es klang fürchterlich – wie ein Schlafender, der in einem Albtraum von einer Hexe gequält wird und keine Hoffnung hat, je wieder zu erwachen. Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Zuckungen andauerten, aber irgendwann schloss sie die Augen, und der Kopf fiel ihr auf die Brust. Der Diakon war vor Schreck erstarrt. Dass es so still in der Kirche war, war ein Segen. Ich nahm Madame Sparvs schlaffe, schweißnasse Hand. Sie hob den Kopf und öffnete die Augen, ihre geweiteten Pupillen funkelten dunkel.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich.
    »Ich werde Ihnen meine Vision erzählen.« Sie drehte sich zu mir und dem Diakon um. »Da kam ein Mann und behauptete, er verfüge über das Ewige Wissen. Es war Hermes Trismegistos.«
    »Wie können Sie es wagen, hier den Namen eines heidnischen Hexers auszusprechen!«, wisperte der Diakon.
    Madame Sparv zog sich auf die Beine und stellte sich vor ihn. »Er hat behauptet, die drei Lehren der Göttlichen Geometrie seien hier in der Storkyrkan manifest: die konzentrischen Kreise des
Nebensonnengemäldes
, das Dreieck über dem Eingang, vor allem aber das Oktagon. Und nicht nur das achteckige Taufbecken.« Sie streckte den Finger aus, dem der Diakon und ich bis an die Decke folgten. » Oben wie unten«, sagte sie.
    Der Diakon machte ein Gesicht, als hätte ein Dämon eine unauslöschliche Gotteslästerung in das Gebäude gemeißelt. Ich stand auf, um besser zu sehen. Im Mittelschiff verbanden sich die Rippen eines jeden Gewölbes zu den Speichen eines achtseitigen Rads, damit schufen sie eine Folge von Oktagonen, die das Gewicht der Mauern und die Decke trugen.
    »Sie, Sekretär von wem auch immer, bleiben hier und passen auf diese Hexe auf, bis die Wachtmeister kommen«, flüsterte der Diakon.
    Normalerweise hätte ich einen Besuch der Polizei vom nächsten Revier nicht gefürchtet, zumal wir ja nichts getan hatten, aber es war besser, die Gesetzeshüter zu meiden, denn wenn sie in Kirchenangelegenheiten involviert waren, schlugen sie sich immer auf die Seite Gottes. »Wir gehen jetzt«, sagte ich, stand auf und zog Madame Sparv auf den Gang. Einer ihrer Füße verhakte sich in der Bank. Der Diakon rannte zum Glockenturm, um die Polizei durch Geläut zu alarmieren. Als die Glocken schlugen, kam Madame Sparv zu sich, und wir liefen schell zum Ausgang hinaus auf die enge Straße.
    »Bringen Sie mich nach Hause, Emil, ich muss Ihnen erklären, was diese Vision bedeutet.« Sie wirkte nicht im mindesten erschrocken, eher wie jemand, der gerade ein spannendes Spiel miterlebt hat. »Und tragen Sie Ihren Rock mit der Innenseite nach außen, das dunkle Futter ist nicht so leicht zu erkennen.« Ich drehte meinen Rock um und band mir den Schal enger um den Hals.
    Das Tageslicht war geschwunden, es kam einem vor wie Mitternacht, obwohl es erst kurz nach fünf war. Es schneite, dicke Flocken schwebten wie Seifenflocken herab, während wir den Storkyrkbrinken hinuntereilten und weiter zur Gråmunkegränd, die von Menschen bevölkert war, die auf dem Weg nach Hause waren. Keiner von uns sprach. Der Vorhang aus Schnee schützte uns davor, erkannt zu werden, aber ich konnte erst wieder richtig Luft holen, als wir uns sicher in der Nummer 35 eingeschlossen hatten. Doch mein Trost war nur von kurzer Dauer. »Was war denn hier los, Madame Sparv?«, fragte ich, als ich in den leeren Spielsaal blickte. Die Stühle standen quer im Raum, Glas war zerbrochen, ein Tisch war gekippt, und Katarina war nirgends zu sehen.
    »Ich habe mich eine Woche verkrochen, damit Gras über die Sache wächst«, sagte sie und schüttelte den Schnee von ihrem Umschlagtuch. »Der Besuch des Herzogs hat jedem tobenden Gast Tür und Tor geöffnet, vor allem den Patrioten. Die Polizei unternimmt nichts mehr.«
    »Aber Gustav schützt Sie.«
    »Meine Loyalität gegenüber dem König wurde in Frage gestellt.« Sie

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