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Das Stockholm Oktavo

Das Stockholm Oktavo

Titel: Das Stockholm Oktavo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Engelmann
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hinunter. Ihre Räumlichkeiten in der Gråmunkegränd waren in der vergangenen Woche ungewöhnlich dunkel gewesen, sogar das Hoftor war verschlossen gewesen, und ich konnte es kaum erwarten, sie zu treffen. Ich wollte ihr von dem ergötzlichen Unterricht bei der Uzanne berichten, ihr Nordéns Notizbuch zeigen und vor allen Dingen ihren Rat hinsichtlich des Oktavos erbitten. Doch als ich zum Storkyrkbrinken einbog, war sie weg. Ich konnte nur raten, dass sie in die Kathedrale gegangen war, und lief wieder zurück zum Portal.
    In der Kirche war es bitterkalt, es roch nach feuchtem Stein und ausgeblasenen Kerzen. Es gab wenig Tageslicht im Inneren, und die Öllampen, die in regelmäßigen Abständen brannten, spotzten. Angezogen vom Schein der Silberreliefs am Altar, ging ich langsam durch das Mittelschiff. Die prächtige Skulpturengruppe des heiligen Georg mit dem Drachen ragte im Schatten auf, die schweren Kronen aus Goldschnitzerei hingen über den Kanzeln wie Requisiten für einen Bühnenpalast. In dem hohen Bronzeleuchter brannte wie schon seit Jahrhunderten eine Flamme. Da war kein Mensch. Mein Atem war das einzige Geräusch, bis schlurfende Schritte und das Knirschen von Eis durch das Kirchenschiff hallten.
    Ich ging auf das Geräusch zu und hielt an jedem Pfeiler an, um zu horchen. Tropfendes Wasser führte mich zum Narthex – Madame Sparv beugte sich übers Taufbecken, sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und berührte fast das Wasser.
    »Ich habe Sie gesucht«, sagte ich leise. Erschrocken umklammerte sie das Becken, doch ihr angstvoller Blick wich alsbald der Erleichterung. »Ihr Salon ist seit über einer Woche geschlossen. Waren Sie krank?« Sie schüttelte den Kopf. »Und warum sind Sie in der Kirche?«, fragte ich.
    »Ich gehe oft in die Kirche, Herr Larsson, ich glaube an die Kraft heiliger Stätten. Mein Oktavo hat mich verwirrt, und so kam ich hierher, um Führung zu finden«, flüsterte sie und wischte sich mit dem Zipfel ihres Umschlagtuchs die Augen. »Ich hatte schon so lange keine mehr.«
    »Vielleicht habe ich sie bekommen – um sie an Sie weiterzugeben.« Ich zog Nordéns Notizbuch aus der Jackentasche und gab es ihr. Sie schlug das Buch auf und studierte die Diagramme, während ich Nordéns Theorien über Geometrie und Verbundenheit, über die verschiedenen und unendlichen Formen des Oktavos und die Struktur der heiligen Stadt wiedergab. »Es gibt Aspekte der Göttlichen Geometrie, die Sie noch nicht kannten.«
    »Bis jetzt«, sagte sie. Ihre Augen leuchteten, und ihre Lippen zitterten leicht, als sie schließlich aufblickte. »Sie sind ein ausgezeichneter Kurier, Emil.«
    »Sie haben mich beim Vornamen genannt«, stellte ich erstaunt fest.
    Eine Tür neben dem Altar ging einen Spaltbreit auf, ein ausgemergelter Diakon eilte durchs Mittelschiff. Er spähte ins Halbdunkel, als wären wir Geisterscheinungen, dann lief er weiter und blieb an der letzten Kirchenbank stehen. Während er sprach, packte er das Seitenpaneel wie einen Schutzschild. »Ich kenne Sie, Weib. Sie sind die Wahrsagerin des Königs, und Sie sind hier nicht willkommen«, zischte er. Dann sah er mich an. »Und wer sind Sie im scharlachroten Rock? Ein Sekretär des Teufels?«
    »Wir sind beide Schüler des göttlichen Wissens, mein Herr.« Madame Sparv ging auf den Diakon zu, der einen Schritt zurückwich.
    »Ich bezweifle, dass Sie auch nur das Geringste von Gott dem allmächtigen Vater wissen«, sagte er, und eine Wolke heißen Atems entwich seinem Mund.
    »Wir sollten gehen«, sagte ich leise zu Madame Sparv, aber sie war steif vor Wut, ihre Hände hingen wie Gewichte an ihren Seiten, und sie verzog das Gesicht, als ich sie berührte. Sie regte sich nicht, nur ihr Mund bewegte sich, als hätte er ein Stück verdorbenes Fleisch zu verarbeiteten. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Kiefermuskeln verkrampft. Da wurde mir alles klar … »Madame Sparv«, flüsterte ich, nahm ihren Arm und führte sie zu einer Bank, wo wir uns dicht nebeneinandersetzten.
    »Sehen Sie mich nicht an«, murmelte sie.
    »Was ist los?«, fragte der Diakon, er war bleich wie ein Gespenst im Dämmerlicht.
    »Sie ist krank und muss sich setzen«, antwortete ich.
    »Ich bin nicht krank!« Madame Sparv befreite sich aus meinem Griff und stellte sich vor den Diakon. »Kommen Sie und sehen Sie zu, wie die Erkenntnis über die Ewige Zahl eine Seele überkommt!« Sie setzte sich wieder und faltete ihre Hände fest im Schoß; ihr Körper war ganz starr,

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