Das stumme Lied
würde. Als typischer Morgenmuffel hatte sie sich schon dazu zwingen müssen, den anderen Gästen zuzunicken und Hallo zu sagen. Ein Gespräch käme nicht in Frage.
Während sie ihren Tee trank, schaute sie sich im Raum um. Im Erker saß ein altes Paar. Das dunkle Haar des Mannes war von seiner zerfurchten Stirn gerade nach hinten gekämmt und mit Frisiercreme auf den Kopf geklatscht worden. Er hatte gelächelt, als sie hereingekommen war, und dabei fleckige und schiefe Zähne entblößt. Sein graues Gesicht hatte das faltige und ausgehöhlte Äußere eines Kettenrauchers und seine kurzen, emphysematischen Atemzüge bestätigten die Diagnose. Seine Frau hatte nicht gelächelt. Sie hatte Martha nur mit argwöhnischem Blick angestarrt, als wollte sie sagen: »Ihren Typ kenne ich, junge Dame.« Blaugraues Haar schwebte wie Nebel über ihrem mondförmigen Kopf.
Vor der gegenüberliegenden Wand saß ein junges Paar, wahrscheinlich in den Flitterwochen, vermutete Martha. Beide sahen sehr ernsthaft aus. Der Mann war dünn, dunkel, bärtig und akkurat beim Einschenken des Tees; das Gesicht der Frau war, vornübergebeugt wie sie dasaß, fast vollständig von ihren wallenden, glänzend schwarzen Haaren verdeckt. Wenn sie zu ihm aufschaute, erleuchtete ein schüchternes, verstecktes Lächeln ihre Augen. Die beiden hatten Martha nicht einmal wahrgenommen, als sie hereingekommen war.
Der meiste Lärm kam vom dritten Tisch nahe des Teewagens, wo sich eine müde aussehende junge Frau und ein ähnlich erschöpft wirkender Mann bemühten, mit tapferer Miene zwei quengelige Kinder im Zaum zu halten. Die Kinder sahen aus wie Zwillinge, sie hatten das gleiche blonde Haar und die gleichen nörgelnden Stimmen: »Ich mag keine Shreddies, Daddy! Warum gibt es keine Sugar Puffs? Ich will Sugar Puffs!« »Nimm doch Frosties«, sagte die blasse Mutter in dem vergeblichen Versuch, sie zu beschwichtigen. Der Vater, mit weißen Hosen und einem hellblauen Sporthemd, das die lockigen, kupferroten Haare auf seinen Unterarmen sehen ließ, für einen Tag am Strand gekleidet, schaute herüber zu Martha und zuckte mit den Achseln: Was soll man nur mit ihnen machen?
Die Frau des Inhabers kam herein, um die Bestellungen aufzunehmen. Große Auswahl gab es allerdings nicht: Man konnte seine Eier hart oder weich bekommen, seinen Speck medium oder knusprig. Die Frau hatte einen entschlossenen Zug um den Mund, sie ging ihrer Arbeit mit einer brüsken, humorlosen Bestimmtheit nach, auch wenn sie die ganze Zeit ein Lächeln aufsetzte und auf das Geplänkel über das Wetter reagierte. Wenn in diesem Haus jemand die Hosen anhatte, dachte Martha, dann war es wohl die Frau. Ihr Mann ging wahrscheinlich einem anderen Beruf nach und war nur zufällig da gewesen, weil Martha am späten Nachmittag angekommen war. Vielleicht war er sogar Fischer. Wenn sie die Gelegenheit bekäme, einmal unverbindlich mit ihm zu plaudern, könnte sie vielleicht etwas darüber herausfinden, wie der hiesige Fischereibetrieb funktionierte.
Gleich nachdem sie knusprigen Speck und pochierte Eier bestellt hatte, kam der letzte Gast herunter, gab seine Bestellung ab und bediente sich mit Müsli und Saft, kam damit zu Marthas Tisch und ließ sich ihr gegenüber nieder. Er war groß und sah athletisch aus, wahrscheinlich ein Jogger, mit tiefer Sonnenbräune, einem schmalen Gesicht, Adlernase und lebhaften, blauen Augen. Sein kurzes, gelocktes schwarzes Haar glitzerte noch von der Dusche. Er roch nach Old Spiee Aftershave.
Er schenkte sich Tee ein und grinste breit, wobei er perfekte und blendend weiße Zähne entblößte, eine Seltenheit in englischen Mündern. Mein Gott, dachte Martha, ein Morgenmensch. Wahrscheinlich war er vor dem Frühstück schon durch die Stadt gejoggt. Sie rang sich ein dünnes, kurzes Lächeln ab und schaute dann wieder weg, um zu sehen, wie das Paar mit den beiden Kindern zurechtkam.
»Gut geschlafen?«
»Entschuldigung?«
Der junge Mann beugte sich erneut vor und senkte seine Stimme. »Ich fragte, ob Sie gut geschlafen haben?«
»Gut, danke.«
»Ich nicht.«
»Ach?«
»Man hat mich genau neben dem Badezimmer einquartiert. Um sechs ging der Aufmarsch los - einer nach dem anderen - und jeder musste die Klospülung betätigen. Ich hatte das Gefühl, die Rohre laufen durch mein Bett. Wo wir gerade vom Krach reden: Ich heiße übrigens Keith.« Er streckte seine Hand aus und lächelte. »Keith McLaren.« Sein
Weitere Kostenlose Bücher