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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Hause tat sie so, als wäre alles in Ordnung. Noch immer belästigte sie die dunkle Wolke und verursachte ihr heftige Kopfschmerzen und Depressionsschübe, die nur schwer zu verbergen waren. Doch sie konnte Dr. Craven davon überzeugen, dass sie seit dem Abbruch der Analyse ausgezeichnete Fortschritte machte, und die Einschätzung der Ärztin half, ihre Eltern zu beruhigen. Es sei normal und nicht anders zu erwarten gewesen, wenn sie manchmal still und in sich zurückgezogen war. Zudem wussten ihre Eltern, dass Kirsten schon immer großen Wert auf Einsamkeit und Privatsphäre gelegt hatte.
      Jeden Abend praktizierte sie in ihrem Zimmer Selbsthypnose, kam jedoch nicht weiter. Die Anweisungen, die sie in dem Buch gelesen hatte, waren eigentlich ganz einfach: die Augäpfel so weit zurückrollen wie möglich, die Augen schließen und tief Luft holen, dann die Augen entspannen, ausatmen und sich treiben lassen. Sie war bei der Übung sogar zu früheren Erinnerungen an Schmerz vorgedrungen - als sie sich im Alter von sechs Jahren den Finger in einer Tür geklemmt hatte; als sie vom Fahrrad gefallen war und ihr Arm genäht werden musste -, doch über den Fischgestank kam sie noch immer nicht hinaus, ohne von Panikattacken überfallen zu werden.
      An einem herrlich warmen Tag Ende Juli machte sie Rast in einem Dorf in den Cotswolds, um etwas Kaltes zu trinken. Als sie zurück zum Auto ging, fiel ihr ein Kunsthandwerksladen in einem alten Steincottage auf, und sie beschloss, einen Blick hineinzuwerfen. Das Cot-tage hatte einen Anbau an der Rückseite und ein Teil davon war in eine Glasbläserwerkstatt umgebaut worden. Verzaubert schaute Kirsten zu, wie aus dem geschmolzenen Glas am Ende des Rohres feine und zarte Gebilde Form annahmen. Als sie sich danach im Laden umsah, bemerkte sie eine Reihe massiver Briefbeschwerer, ähnlich dem in Lauras Praxis, in denen farbenfrohe, abstrakte Muster gefangen waren. Der Briefbeschwerer mit dem Rosenmuster sprach sie am meisten an, also kaufte sie ihn und spürte eine große Befriedigung angesichts des glatten, rutschigen Gewichts in ihrer Hand. Und er brachte sie auf eine Idee.
      An diesem Abend bereitete sie sich in ihrem Zimmer wieder auf die Selbsthypnose vor, indem sie im Wechsel Atemübungen machte und jeden einzelnen Muskel entspannte. Nachdem sie fertig war, setzte sie sich vor ihren Schreibtisch, auf dem der Briefbeschwerer zwischen zwei Kerzen lag, deren Licht in den gewölbten, scharlachroten Blütenblättern tanzte. In ihrem Buch hatte sie gelesen, dass es viele Arten der Selbsthypnose gab, und sie hatte stets die Methode gewählt, die angeblich am effektivsten war. Doch ob es an der Verbindung zu ihren früheren Sitzungen mit Laura lag oder an diesem neuen Briefbeschwerer, auf diese Weise hatte Kirsten viel mehr Erfolg. Auch wenn der erste Versuch nicht zum großen Durchbruch führte, hatte sie das starke Gefühl, dass sie bald finden würde, wonach sie suchte, wenn sie nicht lockerließ.
      Eine Woche später geschah es. Sie hatte sich zeitlich zunächst immer weiter vom Überfall zurück und dann wieder langsam vorwärts bewegt. Dieses Mal begann sie mit ihren Vorbereitungen für den Abend: ein langes Bad, der frische Zitrusduft ihrer sauberen, bequemen Kleidung, der angenehme Weg ins Ring O'Bells mit Sarah. Bei dem öligen Lappen und dem Fischgestank schreckte sie wie jedes Mal zurück, doch nun hörte sie seine Stimme. Alles verstand sie nicht, nur Satzfetzen über einen »Dunklen« und ein »Lied der Zerstörung«, doch es reichte aus. Mit ihrer Ausbildung in Linguistik und ihren Kenntnissen über Dialekte konnte Kirsten den Akzent schnell einordnen.
      Als sie aus der leichten Trance herauskam, pochte ihr Herz und sie hatte das Gefühl, als wäre sie gerade in ein eiskaltes Bad gefallen. Sie holte tief Luft, war jetzt völlig konzentriert und schenkte sich ein Glas Wasser ein. In ihrem Kopf konnte sie noch deutlich die heisere Stimme hören. Er war aus Yorkshire. Ganz sicher konnte sie nicht sein, doch schien er weder wie jemand aus der Stadt zu sprechen noch den breiten Dialekt der Dales oder der Pennines. Wenn sie diese neue Erkenntnis mit dem salzigen Geschmack von rohem Fisch verband, der an seinen Händen geklebt hatte, dann wusste sie, dass er von der Küste Yorkshires kam - vielleicht aus einem Urlaubsort oder einem Fischerdorf. Je länger sie darüber nachdachte, die Stimme Revue passieren ließ und sich an ihre Seminare erinnerte, desto sicherer

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