Das stumme Lied
abschirmte, sah vielversprechender aus. Die Hintertür war stabil und verschlossen, und das verhängte Fenster, das wahrscheinlich ins Wohnzimmer oder Esszimmer führte, war ebenfalls unmöglich zu öffnen. Das Küchenfenster erschien eine bessere Möglichkeit zu sein. Das Holz war alt und der nicht geschlossene Riegel war vor langer Zeit in der geöffneten Position überlackiert worden.
Sue stemmte ihre Handballen gegen die Querstrebe und drückte. Zuerst passierte nichts, und sie dachte schon, dass vielleicht auch der Fensterrahmen gestrichen worden war und die Farbe ihn festhielt. Doch außen war die Farbe rissig und blätterte ab, und schon bald begann das Fenster oben zu wackeln. Nachdem sie es so weit hochgeschoben hatte, dass sie hinein konnte, hielt Sue einen Moment inne, doch da war kein Geräusch. Niemand hatte sie gehört. Behände schlüpfte sie über die Küchenspüle hinein und schloss das Fenster hinter sich. Von der Anstrengung waren ihre Hände wund und verschwitzt.
Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartet hatte - mit Blut verschmierte Wände vielleicht oder aufgespießte Köpfe und blutrünstige rote Graffiti an den weiß getünchten Wänden: 666 und DIE HURE MUSS STERBEN -, doch auf die absolute Gewöhnlichkeit der Wohnung war sie nicht gefasst gewesen. Das einzige Fenster ohne Gardine war dasjenige, durch das sie geklettert war, und es ließ eine Menge Licht in die Küche. Alles war an seinem Platz; der Abwasch lag im Trockenständer, Gläser und Teller glänzten wie neu. Auch die Oberflächen waren allesamt sauber und der Raum roch nach Zitrusspülmittel. Ein Kühlschrank, in dem sie ihr Spiegelbild sehen konnte, brummte; Suppendosen und Spaghettibüchsen waren ordentlich auf einem Regalbrett über dem Esstisch aneinander gereiht, in dessen Mitte auf einem Deckchen Salz und Pfeffer standen. Selbst der kleine Herd war makellos.
Das Wohnzimmer, in dem das Licht hellblau durch die dünnen Vorhänge fiel, war ebenso aufgeräumt. In einem Regal neben dem Kamin lagen Magazine, die so akkurat übereinander gestapelt waren, dass sie aussahen wie ein massiver Block von der Dicke eines Telefonbuchs. Über dem Kaminsims hing ein Pfeifenständer und die Luft roch nach abgestandenem Rauch. In der Ecke nahe des Fensters stand ein Fernseher auf einem TV-Wagen, auf dem unteren Brett ein Videorekorder und daneben ein Kassettenständer aus lackiertem Holz - und nicht ein Staubkorn war zu sehen. Was schaute sich dieser Mann an? Pornos? Snuff Movies?
Doch als sie die Kassetten überprüfte, stellte sie fest, dass auch sie ganz gewöhnlich waren. Er hatte jede einzelne fein säuberlich beschriftet, bei den meisten handelte es sich um Aufnahmen jüngster Fernsehsendungen, die er wohl versäumt hatte, während er unterwegs auf Liefertour war: ein paar Episoden von Coronation Street, eine Tiersendung von BBC2, ein paar amerikanische Krimiserien und zwei Spielfilme aus einem örtlichen Videoverleih: Angel Heart und Gefährliche Liebschaften. Das war zwar nicht gerade Mary Poppins, aber auch keine Hardcorepornografie.
Vor dem Kamin stand ein altes Sofa, dessen beigefarbenes Polster von einer Schutzhülle bedeckt war, im rechten Winkel dazu stand ein dazu passender Sessel. Wie der Rest des Hauses war das Zimmer klein und makellos, und soweit Sue im schwachen Licht erkennen konnte, waren die Wände eher hellblau gestrichen als tapeziert. Merkwürdig kam ihr allein das völlige Fehlen von Fotos und persönlichem Krimskrams vor. Der Kaminsims war leer, genauso die Regalbretter des massiven Eichenschranks und die Wände.
Neben der Küchentür gab es immerhin ein schmales Bücherregal. Die meisten Bücher beschäftigten sich mit regionaler Geschichte, darunter einige große Bildbände, und die einzigen Romane waren gebrauchte Taschenbücher von Bestsellern Robert Ludlums, Lawrence Sanders' oder Harold Robbins'. Bedes Geschichte fehlte natürlich auch nicht. Sue zog es hervor und bemerkte, dass das alte Taschenbuch ziemlich zerlesen war. Besonders eine Passage war voller Unterstreichungen. Sue erschauderte und stellte das Buch zurück.
In der oberen Etage erfuhr sie nichts Neues über den Besitzer des Hauses. Im Badezimmer glänzte jeder Hahn, jeder Anschluss und jede Oberfläche in makelloser Reinheit, und im Badezimmerschrank standen verschiedene Pillendosen, Tinkturen und Cremes wie Soldaten in ordentlichen Reihen und Habachtstellung. Das Bett war gemacht und mit gelben Nylonlaken bezogen,
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