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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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wurde sie.
      Sie sprang auf und zog den alten Schulatlas aus dem Bücherregal. Auf der Karte konnte sie sehen, dass sich die Küste von der Gegend um Bridlington Bay im Süden bis ungefähr nach Redcar im Norden erstreckte. Auf die Grafschaftsgrenzen konnte man sich allerdings nicht verlassen, besonders weil sie in den siebziger Jahren verändert worden waren. Sie glaubte nicht, dass er so weit im Norden wie Middlesbrough lebte, wo der regionale Dialekt von einem leichten northumbrischen Einschlag durchzogen war, im Süden musste sie jedoch die Gegend bis zur Humbermündung mit einbeziehen. Damit blieben mehr als hundert Meilen zerklüfteter Küstenlinie. Es war zwecklos, dachte sie. Selbst wenn sie Recht hatte, konnte sie ihn in einem so großen Gebiet niemals finden. Sie ließ den Atlas auf den Boden fallen und warf sich aufs Bett.
      Am nächsten Tag versuchte sie die gleiche Hypnosetechnik, und wieder hörte sie die Stimme, die flachen Vokale und die abgehackten Konsonanten. Diesmal lösten die Worte etwas in ihr aus, irgendwo tief in ihrem Gedächtnis kam ihr etwas bekannt vor. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es nicht identifizieren. Er hatte ein Gedicht oder eine Art Lied rezitiert. Irgendwo hatte sie gelesen, dass solche Mörder das manchmal taten, sie redeten während ihrer Arbeit und zitierten häufig Bibelverse. Doch sie glaubte nicht, dass die Worte aus der Bibel stammten. Er hatte etwas davon gesagt, »ein Fest zu verlassen«, weil er gebeten worden war, ein Lied zu singen, wozu er nicht fähig war. Sie kannte diese Worte; sie hatte sie irgendwann während ihres Studiums gehört, doch sie konnte sich ums Verrecken nicht erinnern wo.
      In dieser Nacht schlief sie schlecht und wurde von den Wortfetzen und der heiseren Stimme heimgesucht, doch am Morgen fühlte sie sich ihrem Ziel kein Stück näher. Obwohl sie nicht wusste, wie es ihr helfen könnte, musste sie wissen, was genau er gesagt hatte. Sie musste nachdenken, daran arbeiten. Es war eine alte Quelle - dem Klang nach zu urteilen bestimmt aus einer Zeit vor der Renaissance - und das hieß, dass es wahrscheinlich etwas aus der mittelalterlichen Literatur war. Damals haben die Menschen ständig gesungen und an Festen teilgenommen. Sie konnte nur eines tun: lesen.
      Und so setzte sie sich an warmen Tagen in den Garten und las mittelalterliche Literatur: Sir Gawain, Chaucer, Piers Plowman, Anthologien mit religiöser Lyrik. Sie las jedes Buch völlig umsonst. Alles, was die Qualen ihr einbrachten, war das furchtbare Gefühl, ein Zitat zu suchen, das einem auf der Zunge lag, das man aber nicht zu fassen bekam. Es war so frustrierend wie die Suche nach einem Shakespeare-Zitat, wenn man nicht einmal wusste, aus welchem Stück es stammte. Nach außen erweckte Kirsten einen munteren Eindruck, sie bereitete sich auf die Wiederaufnahme ihres Studiums vor und schien optimistisch in die Zukunft zu blicken. Sie erzählte ihren Eltern sogar, dass sie über den plastischen Eingriff nachdachte, von dem der Arzt im Krankenhaus gesprochen hatte. Doch innerlich kochte sie vor Wut und Frustration.
      Eines Tages Ende August saß sie im Garten unter der Rotbuche, und es wehte kaum eine Brise, die ihr Haar aus der Stirn wehte. Sie hatte die Literatur des Mittelalters als Quelle aufgegeben und war noch weiter zurückgegangen, zur angelsächsischen, die sie in ihrem ersten Jahr studiert hatte. Bisher hatte sie Übersetzungen von Beowulf und »Der Seefahrer« gelesen, nun arbeitete sie sich durch Bedes Kirchengeschichte des englischen Volkes. Es war eine alte Übersetzung, die sie in einem Antiquariat gekauft hatte, angezogen durch den abgegriffenen blauen Einband, den vergilbten Seiten und einem angenehm muffigen Geruch, der sie an die örtliche Bücherei erinnerte. Auf dem Vorsatzblatt stand mit ausgeblichener kupferfarbener Tinte geschrieben: »Für Reginald, in Liebe von Elizabeth, Oktober 1939. Möge Gott mit Dir sein.«
      Trotz der blumigen Sprache des Übersetzers kam der ehrwürdige Bede wesentlich menschlicher rüber als viele seiner strengen Kollegen der frühen Kirche. Kirsten konnte sich ihn gut auf der einsamen Insel Lindisfarne vorstellen, wo er während eines harten northumbrischen Winters über schwach beleuchteten Manuskripten brütete. Nachdem sie ungefähr zwei Drittel des Buches gelesen hatte, stieß sie auf die Passage über Englands »ersten« Dichter Caedmon, der nicht singen konnte. Jedes Mal, wenn bei einem Festessen die

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