Das stumme Lied
dem sie her war, derart raue Hände hatte und nach Fisch stank, würde sie ihn wahrscheinlich am Hafen oder auf den Booten finden. Sie glaubte, dass sie ihn erkennen würde, und nun würde die Stimme seine Identität bestätigen.
Außerdem wurde sie auf ihrer Mission geführt - Margaret, Kathleen, Kim und die anderen - sie würden sie nicht scheitern lassen, nicht jetzt, da sie so weit gekommen war. Ihre Aufgabe war heilig; es gab einen bestimmten Grund, warum von allen gerade sie gerettet worden war. Sie war als seine Nemesis auserwählt worden; es war ihr Schicksal, ihn zu finden und ihm gegenüberzutreten. Wie ihr Zusammentreffen aussähe, was passieren würde, konnte sie sich nicht vorstellen. Es würde im Freien sein und es würde in der Nacht stattfinden, mehr wusste sie nicht. Und am Ende würde einer von beiden sterben.
Doch selbst eine Nemesis, dachte sie ironisch, musste planen und sich mit praktischen Gegebenheiten auseinander setzen. Aus dem Reiseführer erfuhr sie auch die Entfernungen von London, York und Scarborough nach Whitby sowie die üblichen Markttage im Ort. Dazu gab es eine Auswahl von Hotels, die jedoch bestimmt alle zu teuer für Kirsten sein würden. Egal, sie konnte nach Bath fahren und einen besseren Reiseführer der Gegend kaufen, der wahrscheinlich auch Pensionen auflistete.
Aufgeregt und nervös durch die Aussicht auf die Jagd machte sich Kirsten an die Vorbereitungen. Zuerst würde sie Sarah besuchen und dann von dort nach Whitby weiterfahren. Viel würde sie nicht mitnehmen, nur eine handliche Reisetasche, Jeans, ein paar Hemden und was immer sie brauchte, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Es musste etwas Kleines sein, etwas, das sie in ihrer Hand verbergen konnte, denn sie wusste, dass sie möglicherweise schnell handeln musste.
Bei dem Gedanken erschauderte Kirsten, sie begann an sich zu zweifeln. Doch dann erinnerte sie sich wieder daran, was sie alles erlitten und überlebt hatte und was der Grund dafür war. Sie musste stark sein; sie musste sich so weit wie möglich auf die praktischen Dinge konzentrieren und darauf vertrauen, dass sich Instinkt und Schicksal um den Rest kümmerten.
Zwei Tage später, nachdem sie einen Reiseführer von Whitby gekauft und Sarah geschrieben hatte, informierte sie ihre Eltern, dass sie beschlossen hätte, zurück in den Norden zur Uni zu gehen. Beide drückten Sorge und Missfallen aus, doch das wurde mit der Erleichterung aufgewogen, dass Kirsten anscheinend ihre lange Depressionsphase überwunden hatte und wieder anfangen wollte zu leben.
»Ich kann nicht behaupten, dass ich mich freue, dass du weggehst«, sagte ihr Vater mit einem traurigen Lächeln, »trotzdem freue ich mich über deine Entscheidung. Falls du verstehst, was ich meine?«
Kirsten nickte. »Ich war wahrscheinlich eine ziemliche Plage. Ich bin keine besonders gute Gesellschaft gewesen, oder?«
Ihr Vater schüttelte schnell den Kopf, als wollte er ihre Entschuldigung abtun. »Du weißt, dass du hier willkommen bist«, sagte er, »ganz egal wie lange du bleiben möchtest.«
Während der ganzen Zeit saß ihre Mutter steif da und knetete die Hände auf ihrem Schoß. Sie ist froh, mich von hinten zu sehen, dachte Kirsten, aber sie würde sich einen solch schrecklichen Gedanken niemals eingestehen. Kirsten war klar, dass das Leben ihrer Mutter von dem Bedürfnis beherrscht war, alles Unangenehme auf Distanz zu halten, in den Augen der Nachbarn gut dazustehen und schonungslos die Grenzen ihrer abgeschlossenen und engen Welt zu verteidigen.
»Ich dachte, ich fahre schon vor Semesteranfang hoch, um mich etwas zu orientieren. Ich glaube, es wird mir gut tun, ein bisschen unterwegs zu sein. Sarah und ich werden vielleicht in den Dales wandern gehen.«
»In den Yorkshire Dales?«, meinte ihre Mutter.
»Ja. Warum?«
»Tja, äh, Liebes, ich bin mir nur nicht sicher, ob das die geeignete Umgebung für ein wohlerzogenes Mädchen ist, wie du eines bist. Es soll da ... na ja, so unglaublich trostlos und schlammig sein, und so unzivilisiert. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du die angemessene Kleidung für einen solchen Ausflug hast.«
»O Mutter«, stöhnte Kirsten. »Sei nicht so ein Snob.«
Ihre Mutter schniefte. »Ich habe nur an dein Wohlergehen gedacht, Liebling. Ich nehme natürlich an, dass deine Freundin an solch ein ... wüstes Leben gewöhnt ist. Aber du doch nicht.«
»Mutter, Sarahs Familie gehört halb
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