Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
Vom Netzwerk:
Harfe herumgereicht wurde und man von jedem erwartete, ein Lied beizutragen, schlich sich Caedmon davon.
      Eines Abends, nachdem er ein Festmahl verlassen hatte, um sich im Stall um die Pferde zu kümmern, hatte er eine Vision, in der ein Mann zu ihm kam und seinen Namen sagte und ihn bat zu singen. Caedmon protestierte, doch der Fremde ging nicht auf seine Ausflüchte ein. »Dennoch sollst du für mich singen«, forderte er. Als Caedmon fragte, über was er singen sollte, entgegnete der Mann: »Preise deine Schöpfung.« Und da fand Caedmon seine Inspiration.
      Es gab nicht plötzlich einen gleißenden Blitz, doch während Kirsten las, schien sich die dunkle Wolke, die sich seit dem Überfall in ihrem Kopf festgesetzt hatte, aufzulösen. Zusätzlich zu ihrer eigenen leisen Stimme konnte sie eine weitere Stimme hören, die gemeinsam mit ihr eine Verdrehung von Bedes Worten las: »Und siehe da, ich fragte, worüber soll ich singen? Und der Dunkle sagte mir, singe von der Zerstörung.« Es war die Geschichte, die er ihr in dieser Nacht im Park erzählt hatte, während er sie schlug und auf sie einstach. Der sommerliche Garten schien um sie zu verschwimmen wie ein durch eine schmierige Linse aufgenommenes Bild und ihr Buch rutschte zu Boden. Sie holte tief Luft und schloss die Augen. Bildreste von Licht und Laub tanzten vor ihren Augenlidern, dann förderte ihr Gedächtnis ungewollt Erinnerungsfetzen zutage.
      Sie konnte jetzt sein Gesicht sehen, im Schatten. Das Licht des Mondes über seiner Schulter fing eine zerfurchte Wange ein, während er den Fischgestank über ihre Lippen und ihre Nase schmierte. Er stopfte einen öligen Lappen in ihren Mund, wovon ihr übel wurde. Dann begann er sie immer wieder ins Gesicht zu schlagen und redete mit dieser heiseren, leiernden Stimme davon, wie er eines Nachts ein Fest der Huren verlassen und eine Vision von dem Dunklen gehabt hatte, dem er seine Impotenz gestanden hatte. Der Dunkle, sagte er, gab ihm die Macht, für Frauen zu singen. Und das tat er mit seinem Messer; er sang für sie, genau wie dieser alte Dichter aus seiner Stadt, der plötzlich spät in seinem Leben mit dem Talent für die Poesie gesegnet worden war.
      Die Bilder liefen weiter. Sie konnte sich jetzt jeden qualvollen Moment in Erinnerung rufen, den sie bewusst erlebt hatte. Sie hörte erst auf, als das unerträgliche Bild der im Mondlicht funkelnden Klinge Form annahm.
      Nachdem sie die warme Luft eingeatmet hatte und mit ihren Fingern über die glatte Rinde des Baumes gefahren war, um sich wieder auf der Erde zu wissen, fiel ihr ein, dass er tatsächlich gesagt hatte: »Genau wie der alte Dichter aus meiner Stadt.« Sie konnte die Worte nun abspielen, als wären sie in ihrem Kopf auf einem Tonband aufgezeichnet. Sie hob das Buch auf und stellte fest, dass Caedmon laut Bede aus einem Ort namens Streanaeshalch stammte. Das war natürlich der angelsächsische Name; Bede benutzte mal die römischen, mal die angelsächsischen Namen. Als sie durch den Index blätterte, fand sie ihn im Nu: »Streanaeshalch: siehe Whitby.« Er kam also aus Whitby. Das ergab einen Sinn. Alles passte zusammen: der Fischgestank, der Dialekt und nun der Bezug auf Caedmon, dem Dichter seiner Stadt.
      Er hatte keinen Grund zu der Annahme gehabt, dass Kirsten die Attacke überleben würde; dass sie weiterlebte, war nicht seine Absicht gewesen. Hatte Superintendent Elswick nicht auch etwas davon gesagt, dass er versucht hatte, zu ihr ins Krankenhaus zu gelangen? Das muss er aus Angst getan haben, sie könnte sich an die Worte seines rituellen Sprechgesangs erinnern. Und als im Laufe der Zeit nichts geschah, muss er vermutet haben, dass sie ihr Gedächtnis verloren und er nichts mehr zu befürchten hatte. Anschließend hatte er munter seine Mission fortgesetzt und sein Lied gesungen, indem er mit einem Messer Frauenkörper verstümmelte.
      Jetzt wusste sie es also. Was sollte sie als Nächstes tun? Erst einmal lief sie ins Haus, um die alten Reiseführer des Automobilclubs ihres Vaters zu suchen. Ein paar bewahrte er für gewöhnlich gemeinsam mit dem Telefonbuch in der Kommode in der Diele auf. Sie schaute im Kartenteil nach und fand Whitby. Es lag an der Küste zwischen Scarborough und Redcar und sah nicht besonders groß aus. Sie fuhr mit ihrem Finger im Ortsverzeichnis die Spalte W hinab: Whimple, Whippingham, Whiston - da war es, »Whitby, 13763 Einwohner«. Größer, als sie gedacht hatte. Doch da der Mann, hinter

Weitere Kostenlose Bücher