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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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gleichen Aussichtspunkt in den Zeitungsladen schlüpfen. Sie ließ ihren Tee stehen und lief schnell über die Straße, um hinter ihm herzugehen. Er würde sie nicht erkennen. Diesmal war sie anders gekleidet, außerdem trug sie eine Brille und hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er schaute sich erschrocken zur Türglocke um, als sie mit gesenktem Kopf eintrat, dann wandte er sich wieder an die Verkäuferin.
      »Alles in Ordnung heute?«, fragte die Frau. »Siehst ein bisschen angeschlagen aus.«
      »Zu wenig Schlaf, das ist alles«, brummte er.
      »Tja, dann pass mal lieber gut auf dich auf, man weiß nie, welche Bazillen heutzutage unterwegs sind.«
      »Mir geht's gut«, sagte er etwas gereizt. »Nur müde, sonst nichts.« Dann bezahlte er seinen Tabak und ging hinaus, ohne einen Blick auf Sue zu werfen, die wie neulich über die Tageszeitungen und den Zeitschriftenständer gebeugt war. Sie nahm die Lokalzeitung und den Independent. Als sie damit zum Zahlen an den Tresen ging, schnalzte die Frau mit der Zunge und sagte: »Keine Ahnung, was mit dem los ist. Da zeigt man ein bisschen freundliches Interesse und er reißt einem fast den Kopf ab. Manche Leute halten es heutzutage offenbar nicht mehr für nötig, höflich zu sein.«
      »Vielleicht hat er irgendwelche Sorgen«, meinte Sue.
      Die Frau seufzte. »Ja, ja«, sagte sie. »Wer hat heute keine Sorgen, wo man nur noch von Atomraketen und Umweltverschmutzung hört. Aber ich habe trotzdem immer ein Lächeln und einen freundlichen Gruß für meine Kunden.« Während sie Sues Wechselgeld abzählte, fuhr sie geistesabwesend fort. »Aber nicht Greg Eastcote. Sonst ist er immer so ein angenehmer Kerl.« Dann zuckte sie mit den Achseln. »Naja, vielleicht ist er tatsächlich nur übermüdet. Ich könnte auch ein kleines Nickerchen vertragen.«
      »Bestimmt ist es so«, sagte Sue, klemmte sich die Zeitungen unter den Arm und ging zur Tür. »Er ist nur müde.«
      »Genau. Den Bösen wird keine Ruhe gegönnt, nicht wahr? Tschüss.«
      Während Sue die Straße entlangging, fuhr Eastcotes Lieferwagen an ihr vorbei. Er nahm die gleiche Route stadtauswärts wie neulich. Die nächste Lieferung. Sie hatte keine Ahnung, ob er später zurückkommen oder über Nacht bleiben würde. Sie konnte sich jedoch vorstellen, dass es ihm zuwider war, sein Haus lange allein zu lassen. An seiner Stelle würde sie jedenfalls dafür sorgen, vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein. Schließlich wusste er nicht, dass sie bei helllichtem Tage eingebrochen war.
      Sie fragte sich, was er sich beim Anblick der neuen Haarsträhne gedacht hatte. Ob er wusste, dass es ihre war? Den Verdacht würde er bestimmt hegen. Oder glaubte er vielleicht, dass es bei ihm spukte und das Übernatürliche für das plötzliche Erscheinen der siebten Strähne verantwortlich war? So wie man der siebten Tochter eines siebten Sohnes magische Kräfte nachsagte. Eines wusste sie: Er hatte sie gesehen, wie man jeden Fremden auf der Straße bemerken würde, doch er wusste nicht, wer sie war. Wenn er über den Schrecken hinweggekommen war, würde er vielleicht wieder beginnen, klar zu denken, und zusammenzählen, wie oft er sie aus dem Augenwinkel gesehen hatte; vielleicht würde er die junge Frau in dem marineblauen Regenmantel mit der jungen Frau mit Brille und Pferdeschwanz in Verbindung bringen. Doch dann würde es schon zu spät sein.
      Sue ging am Fluss entlang in die Stadt. Das gute Wetter war anscheinend zurückgekehrt. Es war ein herrlicher Tag; der Himmel war so tiefblau, wie er manchmal nur an der Küste sein konnte, und es trieben gerade genug dicke, weiße Wolken vorbei, um ein Gefühl von Tiefe und Perspektive zu erzeugen. Jenseits der grünlichen Untiefen reflektierte das Meer das leuchtende Ultramarin des Himmels. Sue blieb an der Drehbrücke stehen und schaute über den Hafen. Das war jetzt wie eine fremde Welt für sie, nachdem sie so viel Zeit in dem anderen, schäbigeren Teil der Stadt verbracht hatte.
      Es war Ebbe, einige der leichten Boote lagen fast auf der Seite, ihre Masten hingen im Fünfundvierziggrad-winkel über dem Schlick. Links von Sue, jenseits der hohen Hafenmauer, standen die Gebäude der St. Ann's Staith, eine bunte Mischung architektonischer Stile und verschiedener Materialien: roter Ziegelstein, Giebel, Schornsteine, schwarzweiße Tudorfassaden, selbst Mühlsteinsplitt. Weiter entfernt, in Richtung der Hallen, in denen der Fisch

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