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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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starrte sie oft über Lauras Schulter hinaus, oder sie stand am Fenster, wenn Laura einen Artikel aus einer Zeitschrift heraussuchte. An manchen Abenden, wenn ihre Sitzungen länger dauerten, holte Laura eine Flasche Scotch aus ihrem Aktenschrank und schenkte beiden einen Drink ein.
      Sie sprachen ausführlicher über Kirstens Kindheit, ihre Eltern, ihre Gefühle zum Sex. Laura fand, dass Kirsten Fortschritte machte. Und das tat sie auch. Sie ging immer noch nicht gerne aus und traf ungern Leute, aber sie fing an, wieder an einfachen Dingen Freude zu haben: vor allem an eigenständigen Beschäftigungen wie Spaziergängen im Wald, Musikhören und Lesen. Sie stellte sogar fest, dass sie sich wieder konzentrieren und gut schlafen konnte. Obwohl sie keine Selbstmordabsichten mehr hegte, behielt sie ihren kalten Hass, und auch die dunkle Wolke pochte weiterhin in ihrem Kopf. Manchmal bekam sie Kopfschmerzen davon. Über den Überfall sprachen sie nicht. Das würde kommen, da war Kirsten sicher, aber erst dann, wenn Laura glaubte, dass sie bereit dafür war.
      Zu Hause fuhr ihre Mutter mit ihrer besorgten Geschäftigkeit fort und häufig schien sie ihre Tochter mit einer Mischung aus Verlegenheit und Mitleid zu betrachten. Aber Kirsten gewöhnte sich allmählich daran. Die beiden gingen sich so oft wie möglich aus dem Weg. Das war nicht schwer. Mit ihrem Garten, ihrem Kricket, ihren Bridgepartien und ihren zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen gelang es Kirstens Mutter mühelos, dauernd beschäftigt zu sein.
      Hugo und Damon schickten Genesungskarten und Galen rief im August einige Male an. Zuerst beauftragte Kirsten ihre Mutter, ihm zu sagen, dass sie unterwegs wäre. Bald wurde ihr jedoch bewusst, dass es ungerecht war. Sie sprach mit ihm und versuchte auf seine Sorgen einzugehen, ohne ihn zu sehr zu ermutigen. Eines Freitags kam er zu Besuch und versuchte Kirsten erneut zu überreden, mit ihm nach Toronto zu gehen. Sie spazierten durch den Wald, und sie ließ zu, dass er ihre Hand hielt, obwohl ihr Körper ablehnend auf seine Berührung reagierte. Es wäre nicht zu spät, sagte er, sie wären beide angenommen worden und das Semester würde erst in ein paar Wochen beginnen. Behutsam wies sie ihn ab, sagte ihm, dass sie später nachkäme, und schickte ihn schließlich fort, nur teilweise zufrieden gestellt. Anfang September ging er dann tatsächlich nach Kanada und schickte ihr, kaum in Toronto angekommen, eine Postkarte. Sie hatte ihm nie erzählt, was wirklich mit ihr los war, auch den Selbstmordversuch hatte sie verschwiegen.
      Wenn jemand Kirsten außerhalb von Laura Hendersons Praxis Halt gab, dann war es Sarah, die fast jede Woche anrief und zwischendurch lange, unterhaltsame Briefe schrieb. Stets schändlich, lustig und mitfühlend brachte sie Kirsten wieder das Lachen bei. Als Sarah fragte, ob sie sie über Weihnachten besuchen durfte, da ihre Eltern durch Australien reisten, war Kirsten begeistert. Auch ihr Vater hielt es für eine gute Idee, doch ihre Mutter, vielleicht in Erinnerung an ihr einziges Aufeinandertreffen mit Sarah in dem schmuddeligen, möblierten Zimmer im Norden, zeigte sich anfangs ablehnend. Weihnachten sei ein Fest der Familie, führte sie als Begründung an. Sie wolle keine Fremden dabeihaben. Ihr Mann hielt dagegen, dass die Familie ohnehin nicht besonders groß sei. Zum Weihnachtsessen kamen für gewöhnlich Kirstens Großeltern sowie zwei Onkels und Tanten, und am zweiten Feiertag besuchten ihre Eltern Freunde im Dorf. Es wäre doch bestimmt gut für Kirsten, sagte er, wenn sie eine Freundin in ihrem Alter an der Seite hätte. Letztlich gab ihre Mutter nach und der Besuch wurde abgemacht. Sarah sollte am 22. Dezember ankommen, Kirsten wollte sie nach ihrer Sitzung mit Dr. Henderson am späten Nachmittag vom Bahnhof abholen. Wie üblich würde sie den Audi ihrer Mutter bekommen.
      Eines Tages Anfang Oktober, als die elegante, alte Stadt grau aussah und ein kalter Wind den Regen durch ihre georgianischen Gassen, Straßen und Plätze peitschte, ließ Kirsten ihren üblichen Spaziergang am Avon ausfallen und fuhr von Lauras Praxis geradewegs nach Hause. Dort angekommen, sah sie, dass ein fremdes Auto in der Auffahrt stand und dass ihre Mutter hinter den Spitzengardinen nach draußen spähte - etwas, was sie normalerweise nicht tat. Sofort begann ihr Herz schneller zu schlagen. Irgendetwas stimmte nicht. War etwas mit ihrem Vater?, fragte sie sich, während sie zur Tür

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