Das stumme Lied
nicht.«
»Weiß er, wo ich wohne?«
»Das glaube ich kaum. Woher auch? Die Angaben in der Presse waren bruchstückhaft. Die örtliche Polizei ist gewarnt worden, auf Fremde in der Gegend zu achten, aber ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen.«
Kirsten musste an all die Spaziergänge im Wald denken, an all die Male, als sie nach den Sitzungen bei Dr. Henderson durch die Straßen von Bath geschlendert war. Ihr wurde plötzlich kalt. »Warum haben Sie mir das nicht alles schon früher erzählt?«, wollte sie wissen.
»Wir wollten Sie nicht beunruhigen.«
»Vielen Dank.«
Elswick beugte sich vor und legte seine Hände auf die Knie. »Glauben Sie mir, Kirsten, Sie waren vollkommen in Sicherheit. Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen, aber sehen Sie es mal so: Wer auch immer Sie überfallen hat, ist besorgt, als er hört, dass sie überlebt haben, also rennt er mit einem halbgaren Plan, wie er Sie zum Schweigen bringen kann, ins Krankenhaus. Er scheitert. Die Zeit vergeht, er verliert die Spur zu Ihnen, nachdem sie hierher kamen, und siehe da, inzwischen sind schon drei Monate um und ihm ist nichts passiert. Er ist immer noch frei wie ein Vogel. Also können Sie nach seiner Sichtweise anscheinend nichts wissen, Sie sind keine Bedrohung.«
»Bis er erneut zuschlägt?«
»Ich glaube immer noch nicht, dass Sie in Gefahr sind. Wir behalten Sie im Auge, keine Sorge, aber das ist eher eine Routinemaßnahme.«
Kirsten fühlte sich ein wenig erleichtert. In Elswicks Worten steckte eine gewisse Logik. Wenn der Mann mehr wüsste, dann wäre schon längst etwas geschehen. Außerdem - warum sollte sie jetzt Angst um ihr Leben bekommen? Es war sowieso nicht mehr viel wert. Auch wenn sie keine Selbstmordabsichten mehr hatte, war sie jetzt manchmal leichtsinnig und fuhr häufig zu schnell Auto und ging nach Einbruch der Dunkelheit durch Straßen, die sie lieber meiden sollte. Selbst im vornehmen Bath gab es zwielichtige Gestalten und schäbige Gegenden. Sie würde sich also nicht der Angst ergeben. Sie war entschlossen, nicht für den Rest ihres Lebens bei jedem Geräusch zu erschrecken und vor jedem Schatten davonzulaufen. Wenn er sie fand, dann sollte es so sein; mochte der Bessere gewinnen. Sie war vielmehr wütend auf die Polizisten, weil sie so nutzlos waren und sich zu der wachsenden Gruppe derer gesellten, die sie nicht mit dem Herausrücken der Wahrheit »beunruhigen« wollten.
»Warum tut er das?«, fragte sie. »Warum verstümmelt er Frauen? Warum hasst er uns so sehr?«
Elswick schüttelte den Kopf. »Wenn wir das wüssten, hätten wir es vielleicht leichter, ihn zu stoppen. Normalerweise ist es ein Mann, und das ist ungefähr das Einzige, was wir mit einiger Sicherheit sagen können. Wer kann schon wissen, was ihn antreibt? Wir haben Leute, die Profile erstellen, Psychologen schreiben Bücher darüber, aber wer weiß es wirklich? Häufig werden Prostituierte zum Ziel, dieses Mal scheinen es jedoch Studentinnen zu sein, wenn wir das Muster richtig lesen. Mit Sicherheit gibt es von seiner Kindheit an eine Million ungelöster Konflikte, wodurch er zu dem geworden ist, der er ist. Vielleicht wurde er sexuell missbraucht. Aber es gibt eine Menge anderer Leute, die unter grausamen Eltern gelitten haben und nicht zu Mördern geworden sind. Wir wissen nicht, was der Auslöser ist, der den einen Menschen anders macht.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich nehme an, dass vor allem Angst dahintersteckt. Menschen wie er haben Angst vor Frauen, aus welchem Grund auch immer, und das Einzige, was sie dagegen tun können, aufgrund ihrer Veranlagung, ist schlagen und überfallen und töten.«
»Woher wissen Sie, dass es der Gleiche ist?«, fragte Kirsten. »Sie haben vorhin etwas von der Ähnlichkeit der Verletzungen gesagt.«
Elswick schaute sie düster an. »Wollen Sie das wirklich wissen?«, fragte er.
Kirsten wusste es nicht genau, aber sie hatte mit Sicherheit nicht vor, klein beizugeben. »In Anbetracht der Tatsache, dass mir so viel anderes vorenthalten wurde, glaube ich, ich habe ein Recht darauf, oder?«
Elswick lehnte sich zurück und musterte einen Moment ihr Gesicht. »Na schön«, sagte er. »Das neue Opfer hatte die gleichen Verletzungen wie Sie, der Täter hat mit seinem Messer die gleichen Körperpartien verstümmelt. Außerdem war das Gesicht des Mädchens durch Schläge und Hiebe völlig angeschwollen. Und ihre Leiche wies das gleiche
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