Das stumme Lied
Fisch.
Zuerst schlenderte Susan ins Cod and Lobster, einem weiß getünchten Pub direkt an der Promenade über der dicken Hafenmauer. Sie bestellte ein Lager mit Limone und setzte sich, überrascht, dass es kein Essen gab, an einen Tisch, um eine Zigarette zu rauchen und zu lesen. Viele Gäste gab es nicht: nur ein Mann in einem Yorkshire-Dales-T-Shirt, der den Hals seines Irish Setter kraulte, und zwei junge Kerle in Marinepullovern, weiten Jeans und Gummistiefeln, die das junge Barmädchen anmachten. Sie hatte im Grunde überhaupt nicht viele Touristen gesehen, auch auf ihrem Weg hinab nicht. Staithes schien viel eher ein echtes abgelegenes Fischerdorf zu sein als Robin Hood's Bay. In einem solchen Ort hatte sie vielleicht mehr Glück, den Mann zu finden, den sie suchte.
Während sie rauchte, betrachtete Sue die Fotos an der Wand. Einige zeigten Bilder des furchtbaren Sturms, der 1953 über Staithes hereingebrochen war und den Pub schwer beschädigt hatte. Andere zeigten Gruppen von einheimischen Fischern, die Susan genauestens musterte. Sie wusste, dass sie sich bei ihrer Suche am wenigsten auf ihre visuelle Erinnerung verlassen konnte, doch für einen flüchtigen Moment hatte sie ihn im Mondlicht gesehen und erinnerte sich an die buschigen, schwarzen, in der Mitte zusammengewachsenen Augenbrauen, an die Augen des alten Matrosen und den dunklen Haarschopf. Niemand auf den Fotos ähnelte ihm, also widmete sie sich wieder ihren Zeitungen.
In der Regionalzeitung stand kein weiterer Bericht zu der in Sandsend angespülten Leiche. Offensichtlich kam die Polizei nicht weiter, und die Reporter konnten es nicht rechtfertigen, jeden Tag die gleiche Geschichte zu wiederholen. Doch das hieß nicht, dass die Ermittlung in eine Sackgasse geraten war. Die Polizei würde dem Fall immer noch nachgehen, Leute befragen und nach Beweisen suchen. Allein bei der Vorstellung, dass sie ihr allmählich auf die Spur kommen könnten, bekam sie ein flaues Gefühl im Magen.
Den Mirror hatte sie gekauft, weil sie glaubte, darin weitere Neuigkeiten über den Studentinnen-Schlitzer zu finden. Und tatsächlich wurden auf einer ganzen Seite seine Heldentaten zusammengefasst, dazu gab es die üblichen verschwommenen Fotos von den Gesichtern der Opfer, die aus alten Studentenausweisen oder Pässen stammten (da sie nie offiziell als sein erstes Opfer anerkannt worden war, war Sues Bild natürlich nicht dabei). Als da wären: Kathleen Shannon mit ihren langen, gewellten Haaren; Jane Pitcombe mit ihren großen Augen und dem abwesenden Blick; Margaret Snell mit ihrem schiefen Lächeln ... und die drei anderen. Abgesehen von versteckten Andeutungen, was er mit den gut gebauten jungen Frauen angestellt hatte (wobei zwischen den Zeilen unterstellt wurde, dass einige von ihnen es nicht anders gewollt hatten), und einer Reihe von Appellen an die Polizei, endlich voranzukommen und ihn zu schnappen (»Das kann auch Ihrer Tochter passieren!«), enthielt der Artikel keine neuen Informationen. Sue starrte auf die sechs Gesichter. Sie hatte zwar keine der Frauen kennen gelernt, fühlte sich ihnen jedoch näher als irgendeinem anderen Menschen. Nachts hatte sie manchmal sogar geglaubt, sie könnte sie in ihr Ohr flüstern hören. Sie halfen ihr, führten sie, wenn sie sich schwach und verloren fühlte, und wenn nicht für sich selbst, dann musste sie für diese sechs ihre Mission zu Ende führen.
Da sie Hunger hatte, drückte sie ihre Zigarette aus und trank ihr Glas leer. Draußen, ein Stück entfernt vom Cod and Lobster, jedoch noch am Hafen, gab es ein Café, das zu einem Privathotel gehörte. Sie ging hinein und betrat einen kleinen, gut besuchten Raum, für den nur eine Kellnerin zuständig war. Obwohl sie mit sechs oder sieben gerade hereingekommenen Gästen alle Hände voll zu tun hatte, bewältigte sie die Bestellungen recht zügig und hatte immer noch für jeden ein Lächeln übrig. Als die Küchentür aufschwang und Sue einen flüchtigen Blick erhaschte, sah sie, dass es auch nur einen Koch gab. Die Speisekarte bot wenig Auswahl. Das Tagesgericht war Kabeljau mit Pommes frites. Sie bestellte es.
Da man in dem Café nicht rauchen durfte, verbrachte sie die gut zwanzig Minuten, die sie auf das Essen warten musste, damit, die Kreuzworträtsel zu lösen und sich im Minor über die Sexabenteuer berühmter Fernseh- und Popstars zu informieren. Das Essen, das schließlich serviert wurde, war gut. Sue kam der Gedanke, dass sie in
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