Das stumme Lied
eilte. Ihr Martyrium hatte einen furchtbaren Tribut von ihm gefordert, und obwohl er ihr in der letzten Zeit wieder kräftiger und glücklicher erschienen war, hatte er immer noch dunkle Ringe unter den Augen und zudem seinen kindlichen Enthusiasmus verloren. War sein Herz schwach? Hatte er einen Herzinfarkt erlitten?
Ihre Mutter öffnete die Tür, noch ehe Kirsten ihren Schlüssel ins Schloss stecken konnte. »Besuch für dich«, sagte sie flüsternd.
»Was ist denn?«, fragte Kirsten. »Ist etwas mit Vater?«
Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Natürlich nicht. Wie kommst du denn auf die Idee?«
Kirsten hängte ihren Mantel an die Garderobe und rannte ins Wohnzimmer. Vor der Terrassentür saßen zwei Männer, nahe der mittlerweile perfekt gereinigten Stelle, an der Kirsten ihr Picknick mit Scotch und Tabletten veranstaltet hatte. Einen der Männer erkannte sie, so glaubte sie jedenfalls, aber ihre Erinnerung war verschwommen. Er hatte abstehende, graue Haare, ein rotes Gesicht und einen dunklen Leberfleck zwischen dem linken Nasenflügel und der Oberlippe. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Und dann fiel es ihr ein: der Polizist, Superintendent ...
»Elswick, Miss«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Detective Superintendent Elswick. Wir haben uns bereits kennen gelernt.«
Kirsten nickte. »Ja, ja, natürlich.«
»Und das ist Detective Inspector Gregory.«
Inspector Gregory streckte seine Hand aus, die an einem erstaunlich langen Arm hing, und Kirsten machte einen Schritt nach vorn, um sie zu schütteln. Dann verschwand er wieder im Sessel - im Lieblingssessel ihrer Mutter, wie sie bemerkte. Gregory war vermutlich Mitte dreißig und seine dunklen Haare waren etwas zu lang für einen Polizisten. Zudem war er recht nachlässig gekleidet: braune Kordhosen, die von zu vielem Waschen abgewetzt waren, eine braune Wildlederjacke und keine Krawatte. Kirsten fand, dass er etwas flatterhaft aussah. Ihr gefiel auch nicht, wie er sie anschaute. Superintendent Elswick trug einen marineblauen Anzug, ein weißes Hemd und einen schwarz-bernsteinfarben gestreiften Schlips. Es war derselbe, den er beim letzten Mal getragen hatte, erinnerte sie sich. Wahrscheinlich von einer alten Schule oder einem Regiment; er sah wie ein ehemaliger Militärtyp aus.
»Wie geht es Ihnen, Kirsten?«, fragte Elswick.
Kirsten nahm auf dem Sofa Platz, bevor sie antwortete. Ihre Mutter drückte sich im Hintergrund herum und fragte, ob noch jemand Tee wolle.
»Ich habe noch keinen getrunken«, sagte Kirsten. »Ja, ich hätte gerne welchen, bitte.«
Die zwei Polizisten sagten, sie hätten nichts gegen eine weitere Tasse, und Kirstens Mutter ging los, um eine frische Kanne aufzusetzen.
Kirsten schaute Elswick an. »Wie es mir geht? Gut, nehme ich an.«
»Schön. Ich bin sehr froh. Es war eine furchtbare Sache.«
»Ja.«
Sie saßen in angespannter Stille da, bis Kirstens Mutter mit dem Teetablett zurückkehrte. Nachdem sie es auf dem Mahagoni-Couchtisch vor dem Steinkamin abgestellt hatte, verschwand sie wieder. »Ich lasse euch dann allein.«
Durch die Sitzungen mit Dr. Henderson war Kirsten an Schweigephasen gewöhnt. Anfänglich hatte die Stille sie aus der Fassung gebracht und unruhig gemacht, aber jetzt saßen sie manchmal zwei Minuten lang so da - eine sehr lange Zeit, wenn sich zwei Menschen schweigend gegenübersaßen -, während Kirsten sich durch den Kopf gehen ließ, was Laura gesagt hatte, oder versuchte, eine Antwort auf eine besonders prüfende und schmerzhafte Frage zu finden. Mit Elswick und Gregory hatte sie leichtes Spiel. Offensichtlich wollten die beiden irgendetwas, sie musste also nur warten, bis sie zum Thema kamen.
Gregory spielte »Mutter«, eindeutig eine unpassende Rolle für ihn, und schüttete genauso viel Tee auf die Untertassen wie in die Tassen selbst. Elswick sah ihn stirnrunzelnd an und nahm Milch und Zucker. Als sich dann alle eingerichtet hatten, schlug Gregory seine langen Beine übereinander und zog ein schwarzes Notizbuch hervor. Er gab sein Bestes, so zu tun, als wäre er ein Teil des Sessels, in dem er saß.
»Kirsten«, begann Superintendent Elswick, »ich kann mir vorstellen, dass Sie bereits vermutet haben, dass ich den weiten Weg nicht gekommen wäre, gäbe es nicht einen wichtigen Grund.«
Kirsten nickte. »Haben Sie ihn gefasst?« Für einen Augenblick überkam sie die Angst, dass der Täter jemand
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