Das stumme Lied
Tabakladen, Videoverleih; und rechts von ihr, ungefähr zwanzig Meter vor den Fabriktoren, befand sich ein winziges Café.
Von außen hatte das Lokal nichts Anziehendes. Das weiße Schild über dem schmutzigen Tafelglasfenster war durch rostiges Wasser, das über die Regenrinnen gelaufen war, rötlich braun verschmiert, und das R und das F von ROSE'S CAFE waren so ausgeblichen, dass man kaum noch die Umrisse erkennen konnte. Im Fenster hing eine lustlos mit der Hand beschriebene Karte, auf der Tee, Kaffee und Sandwiches angeboten wurden. Die Lage war allerdings ideal. Von einem Tisch am Fenster würde Sue wahrscheinlich durch den Schmutzfilm schauen können und einen guten Blick auf die Arbeiter haben, die der Reihe nach durch die Tore hinaus auf die Straße kamen. So wie es aussah, konnten sie in keine andere Richtung verschwinden.
Sie ging bis vor die Tore. Sie waren geöffnet und es gab weder Pförtnerhäuschen noch Wachposten. Offensichtlich stand die nationale Sicherheit hier nicht auf dem Spiel, eine Fischverarbeitungsfabrik hatte von Terroristen oder kriminellen Banden wenig zu befürchten. Ein Feldweg führte ungefähr hundert Meter durch ein mit Unkraut und Abfall überwuchertes Stück Brachland zur eigentlichen Fabrik, ein langer, zweistöckiger Plattenbau mit einem neuen Anbau aus rotem Ziegelstein an der Vorderseite für das Büropersonal. Hinter den Glastüren gab es so etwas wie einen Empfangsbereich und durch die Fenster des Anbaus erkannte man mit Neonröhren erleuchtete Büros. Außer der Vorderseite konnte Sue nur die Seite der Fabrik sehen, die dem Fluss zugewandt war, und die bestand vollkommen aus nummerierten Laderampen. In dem Bereich parkten einige weiße Lieferwagen, Fahrer in blauen Overalls standen redend und rauchend herum.
Während Sue vor den Toren stand und sich die Gegebenheiten der Anlage einprägte, ertönte im Gebäude eine laute Sirene und wenige Sekunden später kamen Leute auf sie zugeeilt. Sie schaute auf ihre Uhr: Es war zwölf, Mittagszeit. Schnell wandte sie sich ab und ging in das Café. Als sie eintrat, klingelte eine Glocke und eine lange dürre Frau mit Lockenwicklern und in einem schmutzigen Kittel schaute vom Tresen auf, wo sie gerade dünne Weißbrotscheiben für Sandwiches butterte.
»Sie müssen aber früh rausgeflitzt sein«, sagte die Frau vergnügt. »Normalerweise dauert es nach der Sirene dreißig Sekunden, bis die Leute hier sind. Jedenfalls die, die noch kommen. Jetzt, wo es im Brown Cow oben an der Straße Mittagessen gibt, haben viele das arme Rose's im Stich gelassen. Ich bin ja gegen das Trinken am Mittag. Aber was kann ich für Sie tun? Eine schöne Tasse Tee?«
Gab es nichts anderes?, fragte sich Susan. »Ja, danke, das wäre nett«, sagte sie.
Die Frau sah sie stirnrunzelnd an. »Nur eine Tasse Tee? Sie brauchen ein bisschen mehr, Mädel. Sie könnten ein bisschen was auf den Rippen vertragen. Wie wäre es mit einem dieser leckeren Sandwiches mit eingemachtem Fleisch? Oder sind Sie eine von denen, die sich ihr Mittagessen mitbringen?« Ihr Blick war misstrauisch geworden.
Sue spürte, wie sie rot wurde. Alles lief schief. Sie hatte eigentlich gedacht, unauffällig in diesen Laden gehen und bei einer gelangweilten Kellnerin bestellen zu können, die ihr keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Stattdessen hatte sie sich schon damit verdächtig gemacht, dass sie schutzsuchend losgelaufen war, als die Sirene ertönte und jeder auf sie zugestürmt war. Sie war zu schreckhaft und das war nicht gut.
»Ich bin auf Diät«, entgegnete sie schwach.
»Puh!«, schnaubte die Frau. »Mit dem Jungvolk kennt sich doch wirklich keiner mehr aus. Kein Wunder, dass alle diese Magersucht haben oder wie das heißt. Gut, dann eben nur eine Tasse Tee, aber geben Sie mir nicht die Schuld, wenn Sie Schwindelanfälle kriegen oder so.« Sie schenkte eine schwarze, dampfende Flüssigkeit aus einer verbeulten, alten Aluminiumkanne ein. »Milch und Zucker?«
Sue betrachtete die dunkle Flüssigkeit. »Ja, bitte«, sagte sie.
»Neu hier, oder?«, fragte die Frau und schob die Tasse über den roten Resopaltresen.
»Ja«, sagte Sue. »Erst heute angefangen.«
»Zeit zum Einkaufen haben Sie aber schon gehabt, wie ich sehe«, sagte die Frau und schaute hinab auf Sues Tragetüte. »Verstehe nicht, warum Sie dort einkaufen gehen, wenn ein Marks & Spencer in der Nähe ist.« Sie schaute wieder auf die Tüte. »Teuer der Laden. Da
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