Das stumme Lied
zahlt man für den Namen. Dabei kommt alles aus Hongkong.«
Würde sie denn nie aufhören?, fragte sich Sue, errötete und dachte verzweifelt nach, was sie entgegnen sollte. Doch sie kam gar nicht dazu. Die Frau fuhr fort, eine noch unangenehmere Frage zu stellen: »Für wen arbeiten Sie denn, für den alten Villiers?«
»Ja«, sagte Sue ohne nachzudenken.
Die Frau lächelte wissend. »Dann gebe ich Ihnen einen Rat: Nehmen Sie sich vor ihm in Acht. Der hat seine Hände überall, und zwar so viele wie eine Krake, habe ich gehört.« Sie legte einen Finger an den Nasenflügel.
Hinter ihnen klingelte laut die Tür. »Na also, da sind sie ja!«, sagte sie und wandte sich endlich von Sue ab. »Okay, wer kommt zuerst? Hey, schreit nicht alle durcheinander!«
Sue schlängelte sich durch die neuen Kunden und nahm den Tisch am Fenster. Sie hoffte, dass der alte Villiers und seine Freunde zu denen gehörten, die von Rose's zum Brown Cow übergelaufen waren. Wenn sie im Management arbeiteten, war es höchst unwahrscheinlich, dass sie zum Mittag in einem winzigen Café Sandwiches mit eingemachtem Fleisch aßen und bitteren Tee tranken.
Trotzdem war es ein verdammtes Desaster. Sue hatte gedacht, sie könnte so lange wie nötig jeden Tag gegen fünf Uhr in dieses Lokal kommen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen. Vorausgesetzt, das Wetter würde sich bessern und die Polizei würde ihr nicht auf den Fersen sein, hätte sie danach, wenn sie länger hätte bleiben müssen, ein billiges Fernglas kaufen und die Tore von der Baumgruppe direkt über dem Fabrikgelände aus beobachten können.
Doch nun war sie gesehen worden und hatte, was schlimmer war, gelogen. Sollte die Frau herausfinden, dass Sue eigentlich gar nicht in der Fabrik arbeitete, würde sie bestimmt misstrauisch werden. Schließlich war Rose's Café nicht gerade eine Touristenattraktion. Jetzt blieb ihr also nichts anderes übrig, als vom Wald aus zu spähen, egal wie das Wetter sich entwickeln würde.
Der einzige Lichtblick am Horizont war das Brown Cow. Wenn die Arbeiter mittags dort hingingen, kamen manche vielleicht auch abends nach der Arbeit. In einem großen, gut besuchten Pub fiel man weniger auf als in einem kleinen Café wie dem Rose's.
Verärgert über sich selbst und über das Wetter, zündete sich Sue eine Zigarette an und studierte die Gesichter der anderen Gäste des Cafés, um ihre Zeit sinnvoll zu nutzen. Beruhige dich, sagte sie sich. Wenn er in der Fabrik arbeitet, wird es nicht lange dauern, bis du ihn gefunden hast. Es darf nicht lange dauern.
* 36
Kirsten
»An was kannst du dich noch erinnern?«, fragte Sarah, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn in die Hände.
»Das war's schon«, sagte Kirsten. »Sonst nichts. Es ist so frustrierend. Seitdem hatte ich schon zwei weitere Sitzungen, ohne weiterzukommen. Jedes Mal mache ich an der gleichen Stelle einen Rückzieher.«
Es war sieben Uhr am Abend. Vor einer Stunde hatte Kirsten den Wagen in einer Seitenstraße der Dorchester Street geparkt und Sarah vom Bahnhof abgeholt. Im leichten Schneefall waren sie in die Stadt gegangen, nun saßen sie in einem Pub in der Cheap Street nahe der Abtei. Das Lokal war überfüllt mit der üblichen Feierabendkundschaft und Leuten, die sich von ihren Weihnachtseinkäufen erholten. Kirsten und Sarah war es gerade noch gelungen, sich an einen kleinen Tisch zu quetschen.
»Machst du weiter?«, fragte Sarah.
Kirsten nickte. »Morgen früh hab ich die nächste Sitzung.«
»Du willst es also tatsächlich wissen.«
»Ja.«
»Du weißt, dass es ein weiteres Opfer gegeben hat, kurz vor Semesterende, oder? Jetzt sind es zwei - drei mit dir.«
»Kathleen Shannon«, sagte Kirsten. »Zweiundzwanzig Jahre alt. Sie hat Musik studiert. Ich wünschte nur ...«
»Was?«
»Nichts.«
»Komm schon, Kirstie. Ich bin's, Sarah, erinnerst du dich?«
Kirsten lächelte. »Du wirst wahrscheinlich denken, ich bin verrückt. Aber manchmal fühle ich mich so leer und dann werde ich total wütend. Ich muss ständig an diese anderen beiden denken. In meinem Kopf ist dieses Ding, wie ein riesiger schwarzer Klumpen oder eine dicke Wolke, und meine gesamte Erinnerung ist da drin eingeschlossen. Ich glaube nicht, dass es weggehen wird, Sarah, selbst wenn die Polizei ihn kriegt. Was ist, wenn sie ihn finden, aber nicht beweisen können, dass er es getan hat? Was ist, wenn er
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