Das stumme Lied
gesagt.«
»Was meinen Sie?«
»Wissen Sie nicht mehr? Vorher konnten Sie sich nur bis zu dem Punkt erinnern, wo die Hand von hinten kommt. Sie haben nie etwas davon gesagt, dass Sie zu Boden gezogen wurden.«
Kirsten runzelte die Stirn. »Aber so muss es doch passiert sein, oder?«
»Ja, aber dieses Mal haben Sie es tatsächlich wiedererlebt.«
Das stimmte. Kirsten hatte sich an das Gefühl erinnert, auf ihren Rücken gefallen oder gestoßen worden zu sein, und sie hatte die weiche Wärme des Grases gespürt, als es in ihrem Nacken gekitzelt hatte ... dann die Dunkelheit, das Gewicht. »Ich habe aber nichts gesehen«, sagte sie.
»Vielleicht nicht. Ich habe ja gesagt, dass mehrere Sitzungen nötig sein könnten. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass Sie Fortschritte gemacht haben. Sie haben sich an etwas erinnert, an das Sie sich vorher nicht erinnern konnten, etwas, das Sie verdrängt hatten. Das mag nicht viel sein, und es mag Ihnen nichts sagen, es beweist jedoch, dass Sie es können, dass Sie sich erinnern können.«
»Und da ist noch etwas«, sagte Kirsten und nahm ihren Scotch. »Es stimmt, dass ich diesmal nichts Neues gesehen habe, aber Sie haben Recht, ich bin weiter gekommen als vorher. Nicht nur Bilder, visuelle Erinnerungen, können zurückkehren, sondern auch Gefühle, oder?«
»Welche Gefühle meinen Sie? Angst? Schmerz?«
»Ja, aber nicht nur das. Ahnungen, dunkle Vorahnungen ... es ist schwer zu beschreiben.«
»Versuchen Sie es.«
»Also, ich hatte das Gefühl, dass ich sein Gesicht tatsächlich gesehen habe. Ich meine nicht jetzt, nicht heute, sondern damals, als es passiert ist. Ich weiß, dass ich ihn gesehen habe, aber ich blockiere immer noch meine Erinnerung. Und dann war da noch was. Ich weiß nicht, was es war, aber da war eindeutig etwas an ihm. Es war fast greifbar, wie ein Name, den man auf der Zunge hat, aber ich habe mich gewehrt. Ich bekam keine Luft mehr, außerdem war es so dunkel, dass ich zurück musste.«
»Wollen Sie weitermachen?«, fragte Laura und hob die Flasche. »Sie müssen nicht. Niemand kann Sie zwingen. Sie wissen, wie schmerzhaft es sein kann.«
Kirsten kippte den Rest Scotch hinunter und hielt Laura das Glas hin. Die Erfahrung hatte sie zwar erschreckt, aber sie hatte ihr auch etwas gegeben, das sie vorher nicht gespürt hatte: eine Entschlossenheit, ein Ziel. Ihr kalter Hass hatte sich zu dem Wunsch kristallisiert, ihren Peiniger zu sehen. In einer merkwürdigen Art und Weise war alles mit der dunklen Wolke verbunden, die schwer in ihrem Kopf lastete.
Als sie schließlich antwortete, leuchteten ihre Augen und ihre Stimme klang fest und sicher. »Ja«, sagte sie. »Ja, ich will weitermachen, egal was passiert. Ich will wissen, wer mir das angetan hat. Ich will sein Gesicht sehen.«
* 35
Susan
Die Zeitungen hatten am nächsten Morgen nicht viel zu berichten. Sue saß in ihrem neuen Café in der Church Street und trank Kaffee, um den Geschmack von Mrs Cummings' Tee loszuwerden. Natürlich wäre es besser gewesen, das scheußliche Gebräu überhaupt nicht zu trinken, doch sie hatte etwas Warmes und Bitteres gebraucht, um wach zu werden. Draußen nieselte es, und im Café waren eine Menge unglücklicher Touristen, die das Wetter im Auge behielten, während sie an einer Kanne Tee und einem Stück Torte saßen, bis der Regen aufhörte und sie sich wieder hinauswagen konnten.
Sue hatte nicht gut geschlafen. Als die Möwen um Viertel vor vier loslärmten, hatte sie bereits wach gelegen. Obwohl zusätzlich mit der Tagesdecke zugedeckt, hatte sie nicht aufhören können zu zittern, vor Entsetzen über das, was sie mit Keith McLaren getan hatte. Noch jetzt konnte sie sein fassungsloses, unschuldiges Gesicht vor sich sehen, das Blut, das über seine gebräunte Wange floss. Sie sagte sich zwar, dass er genauso war wie der Rest, wie alle Männer, doch das änderte nichts daran, dass sie sich hasste für das, was sie gezwungen gewesen war zu tun.
Was sie am meisten anwiderte, war die Tatsache, dass sie die Situation bewusst herbeigeführt hatte. Da sie sich nicht für eine kaltblütige Mörderin hielt, hatte sie Keith in den Wald gelockt und ihn dazu gezwungen, sie in eine Position zu bringen, aus der sie in selbstgerechtem Zorn zuschlagen konnte. Im Grunde war ihre Tat gerade dadurch so kaltblütig wie jede Exekution gewesen; sie hatte sich erst in eine entsprechend zornige Stimmung
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