Das stumme Lied
verbringen. Sie hatte das ewige Problem eines Engländers an der Küste: Was soll man an einem verregneten Tag anstellen? Sie könnte jederzeit ins Kino gehen, wo es Nachmittagsmatineen gab, dachte sie, oder Zeit und Geld an einem dieser einarmigen Banditen in den Spielhallen vergeuden. Dann gab es noch das Museum, die Kunstgalerie und das Captain-Cook-Haus. Natürlich könnte sie auch Bingo spielen, die letzte Zuflucht der wahrhaft Verzweifelten.
Doch Sue wusste, dass sie sich auf solche Dinge nicht würde konzentrieren können. Sie musste sich aktiv mit ihrer Suche beschäftigen, sonst würden ihre Ängste die Kontrolle übernehmen. Sie könnte allerdings zur Fabrik gehen und die Gegend auskundschaften; das wäre ein positiver Schritt. Die Fabrik lag in einem Stadtteil, in dem sie noch nicht gewesen war, und sie musste das Gelände kennen, seine versteckten Winkel, seine Ein- und Ausgänge. Außerdem musste sie einen geeigneten Beobachtungsposten finden. Möglicherweise benötigte sie sogar ein Fernglas, obwohl das etwas zu verdächtig aussehen würde, wenn sie es im Freien benutzen musste.
Doch zuerst musste sie etwas anderes tun, etwas, das ihr während der ruhelosen, schuldbewussten, paranoiden Stunden in den Sinn gekommen war, die sie in der Nacht wach gelegen hatte. Sie musste ihre Reisetasche austauschen. Es handelte sich zwar nur um eine Khakitasche mit Seitenfächern und einem verstellbaren Riemen, die nicht besonders auffällig war, doch sie hatte sie mit sich herumgetragen, seit sie in Whitby war, sowohl als Martha Browne als auch als Sue Bridehead. Das war genau die Sorte Fehler, wegen derer sie gefasst werden könnte. Deshalb sollte sie eine neue kaufen und die alte mit Steinen füllen und samt all ihrer Martha-Browne-Kleidung ins Meer werfen - Jeans, kariertes Hemd, Steppjacke, alles. Diese hochwertige Kleidung wegzuschmeißen war eine Schande, doch war es gefährlich, es nicht zu tun. Abgesehen von den kurzen Momenten am Hafen von Staithes konnte sie nur als Martha Browne mit Keith McLaren und Jack Grimley in Verbindung gebracht werden, also musste Martha Browne vollständig verschwinden.
Sie zahlte ihre Rechnung, überquerte dann die Brücke und ging in eines der Kaufhäuser an der Flowergate. Dort kaufte sie eine kleinere, dunkelgraue Umhängetasche - denn nun musste sie ja nicht mehr so viel sperrige Kleidung mit sich herumtragen - sowie einen leichten marineblauen Regenmantel und eine durchsichtige Kapuzenjacke aus Plastik. In der Toilette packte sie alles, was sie brauchte - Briefbeschwerer, Geld, Make-up, Unterwäsche, Buch -, in die neue Umhängetasche und steckte die alte in die leere Plastiktüte mit dem Logo des Kaufhauses. Jeder, der sie sah, würde glauben, sie führte einfach ihre Einkäufe mit sich. Im Moment reichte das aus, doch bald würde sie entlang der Klippen spazieren gehen müssen, um die Reisetasche für immer loszuwerden.
Sie ging zurück über die Drehbrücke, bog jedoch nicht nach links in den touristischen Teil der Church Street, sondern wandte sich nach rechts und folgte der Straße ungefähr eine halbe Meile und kam an der New Bridge vorbei, über welche die A171 nach Scarborough führte. Zu ihrer Rechten tropfte der Regen auf die graue Oberfläche des Esk, während zu ihrer Linken eines dieser funktionalen Wohngebiete der Stadt begann, die jeder Urlaubsort gerne vor dem Blick der Öffentlichkeit versteckt. Nachdem sie ihre Karte zurate gezogen hatte, bog sie scharf nach links ab, im rechten Winkel zum Fluss, und ging gut hundertfünfzig Meter eine Straße am südlichen Rand eines sozialen Wohnkomplexes entlang. Schließlich wandte sie sich nach rechts und kam in eine kurze Sackgasse, die vor den großen Maschendrahttoren der Fischverarbeitungsfabrik endete.
Es war eine Straße, die bei jedem Wetter trist und abweisend aussah. Auf beiden Seiten standen Reihenhäuser, die durch die kleinen Gärten mit Ligusterhecken und Holzpforten, von denen die Farbe abblätterte, etwas abseits der Straße lagen. Der Rußschicht und den weißen Salpeterflecken nach zu urteilen, die sich auf dem graubraunen Stein gebildet hatten, stammten die Häuser aus der Vorkriegszeit. Wie bei einem Haarausfall war die alte Asphaltschicht der Straße mancherorts verschwunden und hatte noch ältere Pflastersteine freigelegt. Links von Sue war ein kurzer Abschnitt der Reihenhäuser in Geschäfte umgewandelt worden: Lebensmittelgeschäfte, Metzger, ein Zeitschriften- und
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