Das stumme Lied
auf Bewährung freikommt oder so? Er könnte ihnen sogar entwischen.«
»Tja, das ist ihr Problem, oder? Du weißt, dass ich kein großer Fan der Polizei bin, aber ich nehme an, dass sie ihren Job verstehen, wenn es um solche Sachen geht. Schließlich wurden anständige Mädchen aus der Mittelklasse ermordet und nicht irgendwelche Prostituierte.«
»Möglich. Aber ich wünschte, ich wüsste, wer es war. Ich wünschte, ich könnte ihn selbst finden.«
Sarah starrte sie an und kniff ihre Augen zusammen. »Und was würdest du dann tun?«
Kirsten malte mit einem Finger einen Kreis auf den feuchten Tisch. »Ich glaube, ich würde ihn umbringen.«
»Selbstjustiz?«
»Warum nicht?«
»Hast du jemals daran gedacht, dass es genau andersherum laufen könnte, dass er dich umbringt?«
»Ja«, sagte Kirsten leise. »Allerdings.«
»Erzähl mir nicht, dass du Selbstmordabsichten hast.«
»Nein, das ist vorbei. Dr. Henderson, Laura, hat mir sehr geholfen. Alle sagen, dass ich wunderbare Fortschritte mache, und das stimmt wahrscheinlich auch, aber ...«
»Aber was?«
Kirsten suchte nach einer Zigarette. Sarah hob ihre Augenbrauen, sagte aber nichts. Das Paar neben ihnen verschwand und zwei junge Männer setzten sich an den frei gewordenen Tisch. Jemand wählte einen U2-Song in der Jukebox, und Kirsten musste lauter sprechen, damit Sarah sie verstand. »Sie wissen nicht, wie es ist, ich zu sein, oder? Ein halbes Leben zu leben, in der Vorhölle. Ich habe das Gefühl, ich komme da nur raus, wenn ich ihn wiedertreffe und weiß, dass er tot ist.«
»Das ist doch lächerlich«, sagte Sarah. »Außerdem wüsstest du auch nicht besser als die Polizei, wo du nach ihm suchen solltest.«
»Das stimmt. Jedenfalls noch nicht.« Sie nahm einen langen Zug von der Zigarette und blies langsam den Rauch aus. »Wollen wir noch etwas trinken? Dann kannst du mir von den anderen erzählen und davon, wie Harridan's läuft.«
Sarah nickte und Kirsten machte sich auf den Weg zur Theke. Sie musste nicht lange warten, bis sie bedient wurde. Es war mittlerweile etwas leerer geworden, da viele der Feierabendtrinker nach Hause gegangen und die abendlichen Stammgäste noch nicht gekommen waren. Die beiden jungen Kerle am Nachbartisch waren aber noch da und sprachen begeistert über Mädchen. Kirsten ignorierte ihre Blicke, als sie zurückging, und setzte sich wieder hin.
»Was ist mit Galen?«, fragte Sarah.
»Er hat mir eine Weihnachtskarte geschickt. Es scheint ihm ganz gut zu gehen.«
»Seid ihr beiden noch ...«
Kirsten schüttelte den Kopf. »Es ist im Grunde nicht sein Fehler. Er hat sich bemüht - Gott, wie er sich bemüht hat -, aber ich habe ihn hingehalten. Ich glaube, im Moment könnte ich keine Beziehung zu einem Mann haben.« Sie musste daran denken, dass sie Sarah nie das volle Ausmaß ihrer Verletzungen erzählt hatte, und fragte sich, ob sie es jetzt nachholen sollte. Noch nicht, entschied sie, doch vielleicht irgendwann in den nächsten Tagen. Sarah hatte zu ihr gehalten; sie hatte es verdient, die ganze Wahrheit zu erfahren. Kirsten erinnerte sich auch an den kleinen Stapel ungeöffneter Briefe in ihrer Kommode, die fast alle von Galen waren.
Während sie über alte Freunde plauderten, über den Buchladen und das möblierte Zimmer, fiel Kirsten auf, dass die beiden jungen Kerle sie wieder anschauten und miteinander redeten. Während einer Gesprächspause endete der alte Kinks-Song in der Jukebox, und sie konnte hören, was sie sagten.
Einer sagte in etwa, sie würde arrogant aussehen und müsste mal richtig durchgefickt werden. Der andere lachte und erwiderte etwas, von dem sie nur noch das Ende mitbekam: »... mit den Schwänzen, die die hatte, kann man die Straße von hier bis Land's End pflastern - und zwar senkrecht!« Und dann brachen sie in Gelächter aus.
Kirsten wirbelte herum und schleuderte den Rest ihres Biers auf die beiden. Als sie entsetzt zurückwichen, knallten ihre Knie gegen den Tisch, sodass ihre Gläser umkippten, auf den Steinboden fielen und zerbrachen. Überall war Bier verschüttet. Im Nu stürmte der Wirt herbei. »Hey! Ich will hier keinen Ärger.« Und ehe sie wussten, wie ihnen geschah, fanden sich Kirsten und Sarah draußen auf der Cheap Street wieder. Sie hatten keine Ahnung, wo die beiden Kerle abgeblieben waren.
Kirsten lehnte sich gegen einen Laternenpfahl, um zu verschnaufen, und Sarah stand
Weitere Kostenlose Bücher