Das Südsee-Virus
Teura schändete. Er kleidete sich an, grüßte kurz und wurde freundlich zurückgegrüßt. Auf dem Rückweg fiel ihm ein, dass sich Maeva vor Kurzem einmal sehr despektierlich über Rauura geäußert hatte. Sie war sicher, dass er den Arioi angehörte, einer ordensähnlich strukturierten Geheimgesellschaft, die auf den Gesellschaftsinseln einmal großes Gewicht besessen hatte und seit einigen Jahren wieder im Verborgenen blühte. Was genau es mit den Arioi auf sich hatte, wollte sie ihm allerdings nicht verraten. Aber die Existenz dieses Geheimbundes beunruhigte sie, das war zu spüren.
Vor dem Westin Hotel in Downtown Seattle drängten sich etwa dreihundert Schaulustige in Erwartung des UN-Generalsekretärs Leifur Sigurvinson, der in die Stadt gekommen war, um sich über das Ausmaß der Katastrophe zu informieren. Der Eingang wurde von Soldaten einer Eliteeinheit bewacht, die bedrohlich auf die Menge blickten, die in den verspiegelten Visieren zu einem Häufchen Elend schrumpfte. Eine schwarze Limousine bahnte sich ihren Weg durch die Wartenden. Kurz darauf warf die Drehtür eine Gruppe nervös blickender Leibwächter aus, die einen kleinen Herrn im hellen Regenmantel zum Wagen eskortierten.
»Hat sich über Nacht noch etwas getan?«, fragte Sigurvinson, als er neben Präsident Brandon Selby Platz genommen hatte.
»Leider ja«, antwortete Selby, »der Kinnear Park ist weggebrochen.« Er faltete eine Karte auseinander und deutete auf die besagte Stelle. »Eigentlich hätten wir diese Route nehmen sollen, hier, die Elliott Avenue West. Aber die ist verschüttet. Da den Behörden keine andere Wahl blieb, als ganz West Queen Anne evakuieren zu lassen, müssen wir nach Norden ausweichen, hier entlang am Lake Union. Dann oben herum über den ebenfalls schwer geschädigten Discovery Park ins eigentliche Katastrophengebiet Southeast Magnolia.«
»Wie hoch ist die Zahl der Toten inzwischen?«, fragte Sigurvinson.
»Genau weiß man das nicht, um die sechzehntausend. Die Vermissten sind schon mitgerechnet.« Selby faltete die Karte so sorgfältig zusammen, als sei sie bereits ein Relikt aus der Vergangenheit, das in keiner Weise mehr mit den aktuellen Gegebenheiten übereinstimmte. »Wissen Sie, was mich am meisten beunruhigt, Leifur?«
»Sagen Sie es mir.«
»Dass sich die Geschichte nun Jahr für Jahr wiederholen wird. Das macht mir Angst. Die Geologen sind davon überzeugt, dass sich der Kahlschlag in den Cascades und den Olympic Mountains auf verheerende Weise zu rächen beginnt. Die Regenfälle der letzten Wochen haben ganze Berge ins Rutschen gebracht und die Flüsse Puyallup und Newankum in reißende Ströme verwandelt. Drei Millionen Menschen in der Region Puget Sound sind durch das Hochwasser von der Außenwelt abgeschnitten. Der Highway von Seattle nach Portland ist auf einer Länge von hundert Kilometern überflutet und verschlammt. Das Gleiche gilt für die Bahnverbindungen. Die Stromleitungen sind ebenfalls unterbrochen. In Spokane fehlt es an den nötigsten Grundnahrungsmitteln. Und die Massenevakuierungen in die Notunterkünfte des Roten Kreuzes gestalten sich äußerst schwierig.«
Selby blickte aus dem Fenster. Wie zum Hohn zeigten sich erste helle Risse in der schweren Wolkendecke, die drei Wochen bleiern über der Stadt gehangen hatte. Am Horizont schälte sich der schneebedeckte Gipfel des Mount Rainier aus dem Dunst.
»Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll«, sagte Selby achselzuckend, »es mangelt an allem. An Geld, an Fach- und Hilfskräften, an Material, an schwerem Gerät – einfach an allem.«
Zum ersten Mal bereute er, als amerikanischer Präsident zurückgetreten zu sein. Aber was war ihm anderes übrig geblieben, nach der unglaublichen Affäre um Global Oil, in die sogar drei seiner Kabinettsmitglieder verstrickt gewesen waren? Dass er sich anschließend zum Gouverneur seines Heimatstaates Montana hatte wählen lassen, dass es ihm kurze Zeit später gelungen war, mit den Staaten Washington und Idaho zu fusionieren und sich gemeinsam von den durch drei Finanzkrisen stark geschwächten USA zu lösen, um sich künftig als eigenständige Region den ökologischen Erfordernissen zu unterwerfen – das alles war zwar schön und gut, hatte aber den schmerzlichen Nachteil, dass die Pacific Republic , deren Präsident er nun war, keinerlei Bundeshilfe mehr erwarten konnte bei der Bewältigung solcher Katastrophen. Dabei waren diese allein dem hemmungslosen Umgang mit der Natur zu verdanken,
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