Das sündige Viertel
russischen Schriftstellern am meisten liebte«, sah er den Gipfel der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, gleich Tschechow strebte er – wie der marxistische Kritiker Wazlaw Worowski feststellte – »nach der Befreiung des menschlichen Fühlers von den Ketten der Sklaverei und der Gemeinheit«, wohingegen sein aktives Verhältnis zur Revolution von 1905, seine Parteinahme für die Volksmassen und ihr Aufbegehren gegen den Zarismus von Kuprin selbst auf den Einfluß Gorkis zurückgeführt wurde, dem er den Roman »Das Duell« (1905) widmete.
Als Mitglied des 1899 gegründeten, von Gorki initiierten und geförderten Schriftstellerzirkels »Sreda« gehörte er neben Leonid Andrejew, Iwan Bunin, Alexander Serafimowitsch, Nikolai Teleschow, Wikenti Weressajew und den mit diesem Kreis sympathisierenden Dmitri Mamin-Sibirjak und Wladimir Korolenko dem demokratischen Flügel der russischen Literatur an, der 1905 die Notwendigkeit einer sozialen Revolution vorbehaltlos bejahte. Während Kuprin die Februarrevolution von 1917 begrüßte, stand er – ähnlich wie Bunin und Andrejew – der Oktoberrevolution zwiespältig und schwankend gegenüber, mit grundsätzlichen Sympathien für die revolutionäre Umwälzung und Erschrecken über ihren konkreten Ablauf; beim Abzug der Weißen verließ er seinen Wohnort Gatschina, gelangte über Estland nach Helsingfors und im Juli 1920 nach Paris, von wo er erst 1937, ein Jahr vor seinem Tode, enttäuscht, müde und krank in die Heimat zurückkehrte.
Tatsächlich läßt sich Kuprins spätere zwiespältige politische Entwicklung bereits an Gegenstand und Gestaltungsweise des Romans »Das sündige Viertel« ablesen. Ungebrochen äußert sich die sozialkritische Tendenz, die Volksverbundenheit seines Schaffens im Sujet, in der Parteinahme für die Entrechteten, Erniedrigten und Beleidigten in geradezu extremer Weise, denn die Prostitution stellt zweifellos eine der erniedrigendsten Formen des auch den Menschen in Ware umwertenden Kapitalismus dar; andererseits entfernt sich Kuprin mit diesem Thema gewiß nicht zufällig aus dem von ihm zuvor behandelten revolutionsträchtigen Milieu eines kapitalistischen Industriebetriebes wie im »Moloch« von 1896 oder dem der zaristischen Armee wie in seinem wohl berühmtesten Werk, dem Roman »Das Duell« von 1905. Im Grunde sind es jetzt die »outsider« und »outlaws« der Gesellschaft, die ihn interessieren und faszinieren und zu denen er sich im weiteren Sinne wohl auch selbst rechnete.
Er war eine ungebundene und ungewöhnliche Persönlichkeit, die »vom Leben besessen« war, es in allen seinen Extremen durchmessen, erkennen und auskosten wollte und die vor keinem noch so gewagten Experiment, vor Höhen oder Tiefen (im wahrsten Sinne des Wortes!) zurückschreckte. So bestieg er bereits 1909 einen Fesselballon und ließ sich kurz danach als Taucher auf den Meeresgrund hinab, er nahm – nachdem er den Armeedienst quittiert hatte – ein ganzes Spektrum ungewöhnlicher Berufe und Beschäftigungen wahr, vom Gerichts- und Lokalreporter, Tabakpflanzer und -verkäufer, Kontoristen und Psalmensänger, Schiffsheizer und Fischer, Möbelträger und Stahlarbeiter bis zum Schauspieler und Zirkusartisten. Kuprin war stolz auf das in ihm brodelnde, mütterlicherseits vererbte fürstliche Tatarenblut, und er war ein leidenschaftlicher russischer Sucher nach der Wahrheit, nach dem Sinn menschlichen Lebens und nach ethisch begründeter sozialer Gerechtigkeit. Er glich darin in vielem seinem großen Vorbild Maxim Gorki, hatte wie dieser die »Universitäten des Lebens« absolviert und kannte wie kaum ein anderer das erbarmungswürdige Dasein des einfachen russischen Menschen unter der Knute des Zarenregimes und der sprunghaften Kapitalisierung des Landes mit allen ihren katastrophalen sozialen Folgen für den einzelnen. Für ihn war Literatur – auch hierin ähnelte er Maxim Gorki – vor allem eine unbestechliche Dokumentation der bis zur Unmenschlichkeit pervertierten Gebrechen und Verbrechen der ihn umgebenden antagonistischen Gesellschaftsordnung und zugleich Waffe im Kampf zur Beseitigung der sozialen Mißstände und Instrument zur Beförderung der Humanität.
Entsprechend ist die Wahl des Themas Prostitution für Kuprin keine billige Effekthascherei, sondern exemplarisches sozialpolitisches und ethisches Anliegen, das von ebenso hohem gesellschaftlichem Engagement wie moralischem Rigorismus getragen wird. Zwar hat die Gestaltung von
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