Das sündige Viertel
von etwas Persönlichem, das tief in ihrem Innern gärte. Eines Abends verschwand sie und kehrte nie wieder ins Etablissement zurück.
Die Sache war die, daß sie in der Stadt schon lange ein Verhältnis mit einem Notar hatte, einem älteren, ziemlich reichen, aber überaus geizigen Mann. Ihre Bekanntschaft hatte schon vor einem Jahr begonnen, als sie zufällig zur gleichen Zeit mit dem Dampfer zu einem Kloster außerhalb der Stadt fuhren und ins Gespräch kamen. Den Notar fesselte die kluge, schöne Tamara, ihr rätselhaftes, unzüchtiges Lächeln, ihr unterhaltsames Gespräch, ihre bescheidene Art, sich zu geben. Bereits damals erkor sie für ihre Pläne diesen älteren Mann mit dem malerischen Schläfengrau und den herrschaftlichen Manieren, ehemals Rechtswissenschaftler und aus guter Familie. Sie sagte ihm nichts von ihrem Beruf – den mystifizierte sie lieber. Sie deutete nur verschwommen, mit wenigen Worten an, sie sei eine verheiratete Dame aus dem Mittelstand, unglücklich im Familienleben, da ihr Mann ein Spieler und Despot sei und das Schicksal ihr sogar den Trost versagt habe, Kinder zu besitzen. Beim Abschied lehnte sie es ab, den Abend mit dem Notar zu verbringen, und wollte ihn auch nicht wiedersehen, sie erlaubte ihm jedoch, ihr postlagernd zu schreiben, und nannte ihm einen erdachten Namen. Zwischen ihnen entspann sich ein Briefwechsel, in dem der Notar mit stilistischer Eleganz glänzte sowie mit der Inbrunst seiner Gefühle, die der Helden eines Paul Bourget würdig waren. Sie blieb bei ihrem verhaltenen, geheimnisvollen Ton.
Später ließ sie sich von seinen Bitten erweichen und arrangierte ein Rendezvous mit ihm im Fürstengarten; sie war lieb, geistreich und schwermütig, weigerte sich aber, mit ihm irgendwohin zu fahren.
So quälte sie ihren Verehrer und entfachte in ihm geschickt die letzte Leidenschaft, die zuweilen stärker und gefährlicher ist als die erste Liebe. In diesem Sommer schließlich, als die Familie des Notars ins Ausland gereist war, suchte sie ihn in seiner Wohnung auf und gab sich ihm dort zum erstenmal hin, unter Tränen und mit Gewissensbissen, doch zugleich so leidenschaftlich und zärtlich, daß der arme Notar vollends den Kopf verlor: Er ging ganz auf in dieser Altersliebe, die weder Verstand noch Rücksicht kennt, die dem Menschen das Letzte nimmt – die Furcht, sich lächerlich zu machen.
Tamara war sehr sparsam mit Rendezvous. Das entflammte ihren ungeduldigen Freund noch mehr. Sie zeigte sich bereit, von ihm einen Blumenstrauß anzunehmen, auch wohl ein bescheidenes Frühstück in einem Restaurant vor der Stadt, doch empört wies sie alle teuren Geschenke zurück und benahm sich stets so geschickt und fein, daß der Notar niemals wagte, ihr Geld anzubieten. Als er einmal vorsichtig eine eigene Wohnung und anderen Komfort für sie andeutete, sah sie ihm so starr, streng und hochmütig in die Augen, daß er unter dem malerischen Schläfengrau errötete wie ein Knabe und ihr, Entschuldigungen stammelnd, die Hände küßte.
So spielte Tamara mit ihm und fühlte allmählich immer festeren Boden unter den Füßen. Jetzt wußte sie bereits, an welchen Tagen der Notar besonders große Geldsummen in seinem Panzerschrank verwahrte. Jedoch sie ließ sich Zeit, denn sie wollte die Sache nicht durch Ungeschick oder Voreiligkeit verderben.
Nun aber war der lange erwartete Zeitpunkt gekommen. Die große Kontraktenmesse war soeben zu Ende gegangen, und alle Notariate machten täglich Geschäftsabschlüsse über riesige Summen. Tamara wußte, daß der Notar gewöhnlich sonnabends Pfandgelder und andere Geldbeträge auf die Bank brachte, um am Sonntag völlig unbelastet zu sein. Und deshalb erhielt der Notar am Freitag vormittag von Tamara folgenden Brief:
»Mein lieber, vergötterter König Salomo! Deine Sulamith, Dein Mädchen aus dem Weinberg, grüßt Dich mit heißen Küssen … Liebster, für mich ist heute ein Festtag, und ich bin unendlich glücklich. Heute bin ich ebenso frei wie Du. Er ist für einen vollen Tag geschäftlich nach Gomel gefahren, und ich möchte heute den ganzen Abend und die ganze Nacht bei Dir verbringen. Ach, mein Geliebter! Das ganze Leben lang möchte ich vor Dir knien! Ich will nirgendwohin ausgehen. Längst bin ich der Vorstadtrestaurants und Kaffeehäuser überdrüssig. Ich will nur Dich … Dich … Dich allein! Erwarte mich am Abend, Du meine Freude, gegen zehn oder elf Uhr! Stell sehr viel kühlen Weißwein bereit, Zuckermelonen und
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