Das sündige Viertel
Straße geworfen. Blutig und zerfetzt kehrten sie in die Kaserne zurück, wo ihre Kameraden bereits seit dem frühen Morgen ein Regimentsfest feierten. Und es verging keine halbe Stunde, da brach schon eine Hundertschaft Soldaten ins Viertel ein und zerstörte ein Haus nach dem anderen. Von überallher schloß sich ihnen eine unübersehbare Menge an: Vagabunden, Abenteurer, Lumpenproletarier, Landstreicher, Gauner, Zuhälter. In allen Häusern wurden die Fenster eingeschlagen, die Klaviere zertrümmert. Kissen wurden aufgeschlitzt und die Federn auf die Straße gestreut, und noch lange danach – zwei Tage mindestens – kreisten und schwebten über dem Viertel unzählige Daunen wie Schnee. Die Mädchen, ganz nackt und barhäuptig, trieb man auf die Straße. Drei Portiers wurden zu Tode geprügelt. Die gesamte Einrichtung von Tröppel, in Seide und Plüsch, wurde zertrümmert, beschmutzt, in Stücke gerissen. Übrigens gingen auch alle benachbarten Kneipen und Bierstuben zu Bruch.
Die rauschhafte, blutige, wahnwitzige Schlacht währte drei Stunden, bis es endlich hinbeorderten bewaffneten Militäreinheiten zusammen mit der Feuerwehr gelang, die wild gewordene Menge zurückzudrängen und auseinanderzutreiben. Zwei Fünfzigkopekenetablissements waren abgebrannt, doch das Feuer wurde bald gelöscht. Jedoch bereits am nächsten Tag flammte die Empörung wieder auf, diesmal schon in der ganzen Stadt und in der Umgebung. Völlig unvermittelt nahm sie den Charakter eines Judenpogroms an, der drei Tage dauerte, mit all seinem Schrecken und Unheil.
Eine Woche später erfolgte ein Erlaß des Generalgouverneurs, daß unverzüglich alle Bordelle zu schließen seien, sowohl im Viertel als auch in allen anderen Straßen der Stadt. Den Inhaberinnen gab man nur eine Woche Frist zur Regelung ihrer Vermögensangelegenheiten.
Zerstört, vernichtet, ausgeraubt, bar allen Zaubers früherer Größe, lächerlich und kläglich – so packten sie eilig ihre Siebensachen, die abgetakelten alten Chefinnen und die Verwalterinnen mit den fetten Gesichtern und den heiseren Stimmen. Und nach einem Monat erinnerte nur noch der Name an die fröhliche Kutschergasse, an das wüste, skandalöse, schreckliche Viertel .
Übrigens wurde auch der Name bald durch einen anderen, anständigeren ersetzt, um selbst die Erinnerung an die früheren grausamen Zeiten auszulöschen.
Und all diese Henrietten, Dicken Katkas, Lelkas und wie sie alle hießen, die immer naiv und dumm gewesen waren, oft rührend und komisch, größtenteils betrogene und mißbrauchte Kinder – sie alle wurden von der großen Stadt aufgesogen. Aus ihnen entstand eine neue Schicht der Gesellschaft, die Straßendirnen. Von ihrem Leben, das ebenso erbärmlich und unwürdig war, doch von anderen Interessen und Gepflogenheiten beherrscht, wird eines Tages der Autor erzählen, der diese Geschichte trotz allem der Jugend und den Müttern widmet.
Anmerkungen
Nachwort
Wohl kaum ein Werk Kuprins hat die Gemüter so erregt und Leser wie Kritiker zu so konträren, leidenschaftlichen Urteilen und Bewertungen herausgefordert wie das »Sündige Viertel«, dessen erster Teil 1909 erschien. Während die einen in dem Roman einen Schlag gegen die Verherrlichung der Sexualität in den Werken eines Arzybaschew oder Anatoli Kamenski sahen, die minutiös geschilderte »Physiologie« des Freudenhauses als literarische Novität bewunderten und das Buch in seiner aufrüttelnden Wirkung und erschütternden Kraft gar neben Tolstois »Kreutzersonate« stellten, warfen andere dem Verfasser Idealisierung, übermäßigen Naturalismus und ein genüßliches Sichdelektieren an dem dargestellten »schmutzigen« Gegenstand vor, was von einem Hang zur Pornographie zeuge.
Wie dem auch sei – das Buch war in aller Munde: Ganz Moskau spreche über nichts anderes, teilte Iwan Bunin am 22. Mai 1909 Kuprin mit, und der Kritiker Ismailow behauptete, es gäbe buchstäblich niemanden – es sei denn einen Faulpelz –, der nicht darüber schriebe.
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Alexander Kuprin (1870–1938) gehört zu den letzten Vertretern des russischen kritischen Realismus, den mit seinen großen Vorgängern das humanistische Ethos verbindet. »Ich bin ein russischer Schriftsteller, und ich bin verpflichtet, dem Menschen in seiner Not zu helfen … ich bin verpflichtet, dem zu helfen, der unglücklich ist«, lautet sein künstlerisches und menschliches Credo.
In Lew Tolstoi, der Kuprin »von allen zeitgenössischen
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