Das sündige Viertel
revolutionären Geistes aufzudecken vermag, ähnlich wie dies Gorki in seiner autobiographischen Trilogie umfassend geleistet hat. Auch bei Kuprin gibt es keine Haupthelden im eigentlichen Sinne, es kommt dem Autor vor allem auf die Sozialcharakteristik an, auf die Bloßlegung und Entlarvung des entwürdigenden Phänomens der Prostitution selbst, auf die gleichsam anatomische Analyse der »Physiologie« einer Erscheinung, die die Korruptheit des Systems spiegelt.
Dargestellt wird das Thema am Beispiel des mittleren, »vergnüglichen« Zweirubelbordells der Anna Markowna Schäubes. Sie führt ihr »Geschäft« im wesentlichen nicht anders als ein normales Bierlokal oder eine Gemüsehandlung – ein seltsamer kapitalistischer Typ des Sklavenhändlers, der sich ebenfalls gegen Konkurrenz und Gesetzesparagraphen durchzusetzen hat, eine »Chefin«, die gut und grausam zugleich zu ihren »Angestellten« ist und mit der bestochenen Obrigkeit in Person des Revieraufsehers Körbesch – und so also auch mit der Staatsmacht – bestens harmoniert.
Die Mädchen dieses Etablissements werden, zumindest teilweise, differenziert gezeichnet. Es sind unterschiedliche Charaktere, die aus unterschiedlichen Gründen in diese Situation geraten sind und im Verlauf der Romanhandlung entsprechend divergierende Schicksale erleben. Die meisten wurden bereits als halbe Kinder, mit zehn oder fünfzehn Jahren, verführt (von ihrer Herrschaft, ihren Lehrern oder von ihren »Liebhabern«, die mitunter professionelle Frauenhändler waren, wie sie in der Gestalt des Semjon Jakowlewitsch Horizont zu Beginn des zweiten Teils eindrucksvoll demonstriert werden) und so auf den Weg der Prostitution gestoßen.
Da ist das typische Durchschnittsmädchen dieser Profession, Ljuba, ein ihrem Namen entsprechend liebenswürdiges, aber geistig anspruchsloses, williges und gutmütiges Geschöpf, das lächelnd alles über sich ergehen läßt und dem auch der »Rettungsversuch« eines sich anarchistisch gebärdenden Studenten nicht mehr zu helfen vermag, das nach einem kurzen »Ausbruch« um so gedemütigter und nun endgültig in die »Lastergrube« zurückkehrt. In der Gestalt ihres »Retters« Lichonin zeigt Kuprin den Widersinn liberal-idealistischer Vorstellungen, den Prostituierten durch heldenmütige Einzelaktionen helfen zu können, ohne daß an den Wurzeln des Übels etwas geändert wird.
Ganz im Gegensatz zu ihr sind Tamara und Shenja außerordentliche Charaktere, die man normalerweise nicht in diesem Milieu vermuten würde. Die hochintelligente Tamara, mit ihren zweiunddreißig Jahren das älteste der Mädchen, hat ein turbulentes Leben hinter sich – Mädcheninstitut, Gouvernante, Chorsängerin, Schießbudenbesitzerin, Zirkus, Kloster –, bis sie nach einer Liebesromanze mit einem vermeintlichen Revolutionär, der als Provokateur entlarvt und von seinen Kameraden umgebracht wurde, im Bordell untertaucht. Sie, die zwei Fremdsprachen spricht, von den Mädchen respektiert wird, diese gegen die Willkür der Bordellmutter verteidigt und der »Selbstmörderin« Shenja trotz aller Widerstände ein pompöses christliches Begräbnis ausrichtet, betrachtet ihr Freudenhausdasein nur als vorübergehende Notwendigkeit. Sie liebt einen Dieb, mit dem sie nach einem gutgeplanten Coup auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Die eigentliche zentrale Figur unter den übrigen Bewohnerinnen dieses Etablissements und eine der handlungstragenden Gestalten des Romans ist Shenja, das schönste der Mädchen und deren Wortführerin. Sie ist »stolz, kühn, klug und unabhängig«, die Männer liegen ihr zu Füßen. Es wäre ein leichtes für sie, die Mätresse oder gar legitime Gattin eines ihrer Anbeter zu werden und das Bordell zu verlassen. Aber sie, die von der eigenen Mutter mit zehn Jahren verkuppelt wurde und die nun bereits mit Hunderten von Männern geschlafen hat, weiß, daß es für sie keine Alternative gibt. Wie der Autor betont, ist sie die einzige, die ihre Lage begreift, die begreift, was es heißt, »eine öffentliche Dirne« zu sein. Sie haßt die Männer, haßt die Welt. Als sie sich schließlich venerisch angesteckt hat, will sie sich mittels dieser Krankheit zunächst an allen Männern und durch sie an der ganzen Welt für das ihr und ihresgleichen widerfahrene Unrecht rächen und dann freiwillig aus dem Leben scheiden.
Obgleich die übrigen Mädchen – vielleicht mit Ausnahme von Paschka, einer krankhaften Nymphomanin, die schließlich im Irrenhaus endet,
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