Das sündige Viertel
grauenvollen Jahres.
Und in der Tat: überall im Leben, wo Menschen durch gemeinsame Interessen, Blutsbande, Herkunft oder Berufsprofite zu festen speziellen Gruppen verbunden sind, überall dort läßt sich mit Sicherheit dieses geheimnisvolle Gesetz beobachten, daß Ereignisse sich plötzlich häufen, epidemisch auftreten, einander sonderbar kontinuierlich bedingen und erstaunlicherweise kein Ende nehmen wollen. So ist es, wie die Volksweisheit schon lange festgestellt hat, in einzelnen Familien, wo Krankheit oder Tod plötzlich einen Verwandten nach dem anderen in unaufhaltsamer, rätselhafter Aufeinanderfolge dahinraffen. »Ein Unglück kommt selten allein.« Das gleiche stellt man auch in Klöstern, Banken, Ministerien, Regimentern, Lehranstalten und anderen gesellschaftlichen Institutionen fest, wo das Leben lange Zeit, manchmal Dutzende von Jahren, unverändert gleichmäßig dahinfließt wie ein sumpfiges Flüßchen, und plötzlich, nach einem ganz unbedeutenden Ereignis, geht es los: Versetzungen, Umzüge, Ausschluß vom Dienst, Spielverluste, Krankheiten. Als hätten sie sich verabredet, beginnen die Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft zu sterben, verrückt zu werden, Gelder zu unterschlagen, sich zu erschießen oder zu erhängen, eine Stelle nach der anderen wird frei, eine Beförderung folgt der anderen, neue Elemente dringen ein, und nach zwei Jahren ist keiner von den früheren Leuten mehr da, alles ist neu, wenn die Institution nicht am Ende gänzlich eingegangen ist und sich aufgelöst hat. Und betrifft das gleiche erstaunliche Schicksal nicht auch die großen Organisationsformen der Gesellschaft – Städte, Staaten, Völker, Länder und vielleicht, wer weiß, sogar ganze Planetensysteme?
Ein ähnlich unbegreifliches Geschick ereilte auch die alte Fuhrmannsvorstadt und führte zu ihrem raschen und skandalösen Untergang. Jetzt ist anstelle des turbulenten Viertels eine friedliche Stadtrandsiedlung übriggeblieben, in der wohnen Kleingärtner, Katzenfreunde, Tataren, Schweinezüchter und Fleischer aus den nahe gelegenen Schlachthöfen. Eine Petition dieser ehrbaren Leute bewirkte sogar, daß der Name Kutscherviertel, der den Bewohnern wegen seiner Vergangenheit Schande machte, durch die Bezeichnung Golubjowka ersetzt wurde, zu Ehren des Kaufmanns Golubjow, der ein Kolonialwaren- und Lebensmittelgeschäft besitzt und Kirchenvorsteher am Ort ist.
Die ersten unterirdischen Beben dieser Katastrophe begannen im Hochsommer, während der alljährlichen Sommermesse, die in diesem Jahr von märchenhaftem Glanze war. Zu ihrem außergewöhnlichen Erfolg, ihrem starken Besuch und zum Umfang der Handelsabschlüsse trugen vielerlei Umstände bei: der Bau von drei neuen Zuckerfabriken in der Umgebung und die außerordentlich reiche Getreide- und besonders Zuckerrübenernte; die Aufnahme der Arbeiten für ein elektrisches Straßenbahnnetz und die Kanalisation; der Bau einer neuen Straße von siebenhundertfünfzig Werst Länge; vor allem aber das Baufieber, das die ganze Stadt, alle Banken und sonstigen Kreditinstitute sowie alle Hausbesitzer erfaßte. Am Stadtrand schossen Ziegelwerke wie Pilze aus dem Boden. Eine grandiose Landwirtschaftsausstellung wurde eröffnet. Es entstanden zwei neue Schiffahrtsgesellschaften, und zusammen mit den früheren konkurrierten sie untereinander wild drauflos um den Transport von Frachtgut und Pilgern. Der Konkurrenzkampf ging so weit, daß sie die Fahrpreise dritter Klasse von fünfundsiebzig Kopeken bis auf fünf, drei, zwei und sogar eine Kopeke senkten. Schließlich bot eine der Gesellschaften, vom Kampf zermürbt, allen Passagieren der dritten Klasse kostenlose Fahrt an. Daraufhin fügte die Konkurrenz stehenden Fußes zur kostenlosen Beförderung noch ein halbes weißes Brötchen hinzu. Dennoch, das größte und bedeutendste Unternehmen jenes Jahres war die Errichtung eines großen Flußhafens, die Hunderttausende von Arbeitern herbeilockte und weiß der Himmel wieviel Geld kostete.
Es muß noch erwähnt werden, daß die Stadt zur selben Zeit das tausendjährige Bestehen ihrer berühmten »Lawra« feierte, des am meisten geschätzten und reichsten aller bekannten Klöster von Rußland. Von allen Ecken und Enden Rußlands, aus Sibirien, vom Eismeer, aus dem äußersten Süden, von der Schwarzmeerküste und vom Kaspischen Meer – von überall kamen zahllose Pilger, um vor den hiesigen Heiligtümern das Knie zu beugen und den Gerechten der Lawra, die tief unter der Erde
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