Das sündige Viertel
dich bockig.«
Die naive Ljuba näherte ihre Lippen wahrhaftig Lichonins Hand, und diese Bewegung fanden alle erheiternd und auch ein bißchen rührend.
»Na herrlich! Na zauberhaft!« freute sich Lichonin und hatte es auf einmal eilig: »Lauf gleich zur Chefin und sage ihr, daß du für immer von hier fortgehst. Und nimm von deinen Sachen das Nötigste mit. Jetzt ist es nicht mehr so wie früher, jetzt kann ein Mädchen das Freudenhaus verlassen, wenn es will.«
»Nein, so geht das nicht«, fiel Shenja ihm ins Wort. »Daß sie fortgehen kann, das stimmt schon, aber Unannehmlichkeiten und Geschrei lassen sich nicht vermeiden. Paß auf, Student, was du tun mußt, Ist dir die Sache zehn Rubel wert?«
»Gewiß, gewiß … Bitte sehr.«
»Ljuba soll der Verwalterin sagen, daß du sie heute mit zu dir in die Wohnung nimmst. Das ist der Taxpreis – zehn Rubel. Und später, meinetwegen gleich morgen, kommst du und holst ihre Karte und ihre Sachen. Keine Bange, wir kriegen das schon hin. Und dann mußt du mit ihrer Karte zur Polizei gehen und erklären, daß die und die Ljuba bei dir als Dienstmädchen angefangen hat und daß du ihre Karte gegen einen richtigen Ausweis umtauschen willst. Na los, Ljubka! Nimm das Geld und marsch! Aber paß auf, sei vorsichtig, wenn du mit der Verwalterin sprichst, sonst liest sie dir alles von den Augen ab, die Hündin. Und vergiß auch nicht«, rief sie Ljuba noch nach, »wisch dir die Schminke vom Gesicht ab. Sonst zeigen die Kutscher mit Fingern auf dich.«
Eine halbe Stunde später bestiegen Ljuba und Lichonin vor der Haustür eine Droschke. Shenja und der Journalist standen auf dem Trottoir.
»Du begehst eine große Dummheit, Lichonin«, sagte Platonow langsam, »aber ich schätze und ehre deinen edlen Impuls. Gedacht – getan! Du bist ein tapferer und feiner Kerl.«
»Viel Glück!« lachte Shenja. »Vergeßt nicht, uns zur Taufe einzuladen.«
»Da könnt ihr lange warten!« lachte Lichonin zurück und winkte mit der Mütze.
Sie fuhren ab. Der Journalist sah Shenja an und entdeckte zu seiner Verwunderung Tränen in ihren Augen, die nicht mehr so hart blickten.
»Geb's Gott, geb's Gott«, flüsterte sie.
»Was war denn heute mit dir los, Shenja?« fragte er sanft. »Hm? Hast du Kummer? Kann ich dir irgendwie helfen?«
Sie wandte ihm den Rücken zu und beugte sich über das schnitzereiverzierte Geländer der Vortreppe.
»Wohin kann ich dir schreiben, wenn es mal nötig ist?« fragte sie dumpf.
»Ganz einfach. An die Redaktion der ›Otgoloski‹. An mich persönlich adressiert. Das wird mir schnell zugeschickt.«
»Ich … ich … ich …«, hob Shenja an, doch plötzlich brach sie in lautes, leidenschaftliches Schluchzen aus und barg das Gesicht in den Händen. »Ich schreibe dir…«
Und ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, lief sie die Treppe hinauf, ihre Schultern zitterten, und mit lautem Türenschlagen verschwand sie im Hause.
Zweiter Teil
1
Noch jetzt, zehn Jahre später, erinnern sich ehemalige Bewohner des Viertels an jenes Jahr voller unglücklicher, schmutziger und blutiger Ereignisse, das mit einer Reihe nichtiger kleiner Skandale begann und damit endete, daß die Obrigkeit eines schönen Tages die alteingesessene, von ihr selbst geschaffene Brutstätte der legalen Prostitution bis auf den Grund zerstörte und ihre Überreste sich in den Krankenhäusern, Gefängnissen und auf den Straßen der großen Stadt wiederfanden. Noch jetzt gibt es einige Überlebende, ehemalige Puffmütter, die unterdes grau und welk geworden sind, und ehemalige Wirtschaftsverwalterinnen, fett und heiser wie gealterte Möpse, die denken an diesen allgemeinen Untergang mit Trauer und Schrecken und törichtem Nichtbegreifen.
Es hagelte damals förmlich Prügeleien, Diebstähle, Krankheiten, Morde und Selbstmorde, und niemand schien daran die Schuld zu tragen. Alles Unglück und Mißgeschick häufte sich einfach ganz von selbst, eines kam zum anderen, es wuchs und breitete sich aus, genau wie ein kleiner Schneeball, von Kinderfüßen angestoßen, durch den anhaftenden klebrigen Schnee von selbst immer größer wird, zu übermenschlichen Dimensionen anwächst und schließlich durch eine letzte geringe Krafteinwirkung in eine Schlucht stürzt und als riesige Lawine zu Tale fährt. Die alten Puffmütter und Verwalterinnen hatten natürlich nie etwas von Fatum gehört, doch im tiefsten Innern spürten sie seine heimliche Anwesenheit in den unabwendbaren Schicksalsschlägen jenes
Weitere Kostenlose Bücher