Das sündige Viertel
Bemerkungen Heinrichs IV. – kurzum, dieser ganze sinnenpralle, in Gold und Spitzen gehüllte Heroismus vergangener Jahrhunderte in der französischen Geschichte. Dagegen ist sie im gewöhnlichen Leben von nüchternem Verstand, spöttisch, praktisch und auch zynisch böse. Den anderen Mädchen des Etablissements gegenüber nimmt sie eine Stellung ein, wie sie in geschlossenen Lehranstalten der Stärkste oder ein Jahr Ältere oder die Schönste in der Klasse innehat – sie tyrannisiert die anderen und wird vergöttert. Sie ist eine große, schlanke Brünette mit wunderschönen, feurigen braunen Augen, kleinem stolzem Mund, mit Flaum über der Oberlippe und mit ungesunder Wangenröte.
Ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, die Augen vorm Rauch zusammenkneifend, blättert sie von Zeit zu Zeit mit angefeuchtetem Finger die Seiten um. Ihre Beine sind nackt bis zum Knie, ihre großen Füße recht vulgär geformt: unterhalb der großen Zehen treten unregelmäßige häßliche Beulen scharf hervor.
Außerdem sitzt hier, über eine Näharbeit gebeugt, mit übergeschlagenen Beinen Tamara, ein stilles, freundliches, hübsches Mädchen mit jenem dunkelglänzenden rötlichen Schimmer im Haar, wie ihn Fuchsfell im Winter hat. Ihr richtiger Name ist Glikeria, oder Lukeria, wie das Volk sagt. Doch in den Freudenhäusern ist es schon lange Brauch, ordinäre Namen wie Matrjona, Agafja, Siklitinja durch klangvolle zu ersetzen, mit Vorliebe durch exotische. Tamara war früher einmal Nonne oder vielleicht auch nur Novizin in einem Kloster, und bis jetzt haftet ihrem Gesicht etwas Bleich-Gedunsenes und Schüchternes an, jener Ausdruck von Demut und Arglist, wie er jungen Nonnen eigen ist. Im Hause führt sie ein Einzelgängerdasein, ist mit niemandem befreundet, weiht niemanden in ihre Vergangenheit ein. Sie muß aber wohl außer dem Klosterleben noch viele andere Abenteuer hinter sich haben – etwas Geheimnisvolles, Unausgesprochenes, Verbotenes spürt man in ihrer langsamen Sprechweise, im ausweichenden Blick ihrer dunkel-sattgoldenen Augen hinter den gesenkten langen Wimpern, in ihrem Habitus, dem Lächeln und dem Tonfall einer demütigen, aber verderbten Scheinheiligen. Einmal ist es vorgekommen, daß die Mädchen mit nahezu ehrfürchtigem Schauder hörten, wie Tamara fließend französisch und deutsch sprechen kann. Sie verfügt über eine beherrschte innere Kraft. Ungeachtet ihrer äußerlichen Sanftheit und Verträglichkeit begegnen ihr alle im Etablissement mit Achtung und Vorsicht: die Chefin und die Mädchen, und auch die beiden Verwalterinnen, und sogar der Portier, dieser wahre Pascha des Freudenhauses, Schrecken und Held aller.
»Ich mache Schluß«, sagt Soja und dreht eine Trumpfkarte, die unterm Stapel gelegen hat, mit der Rückseite nach oben. »Mit vierzig komme ich raus, ziehe Pik-As, bitte schön, Manetschka, die Zehn. Fertig. Siebenundfünfzig und elf, macht achtundsechzig. Wieviel hast du?«
»Dreißig«, sagt Manka in gekränktem Ton und schiebt die Lippen vor, »na ja, du hast es gut, du kannst dir alles merken. Gib … Und wie geht es weiter, Tamarotschka?« wendet sie sich an diese. »Erzähle nur, ich höre zu.«
Soja mischt die dunklen, fettigen alten Karten und läßt Manja abheben, dann gibt sie, die Finger vorher mit Speichel anfeuchtend.
Unterdes erzählt Tamara Manja mit leiser Stimme, ohne ihr Nähen zu unterbrechen: »Plattstickerei in Gold haben wir gemacht, Altardecken, Meßtücher, Priesterornate … mit Gräsern und Blumen und Kreuzen verziert. Da sitzt du im Winter so am Fenster – die Fenster sind klein und vergittert, wenig Licht, es riecht nach Öl und Weihrauch und Zypressen, und unterhalten durften wir uns nicht, die Mutter Oberin war streng. Da fing dann jemand vor Langeweile zu singen an, zum Beispiel den Hirmos der Großen Fasten … ›Merkt auf, ihr Himmel, ich will den Namen des Herrn preisen …‹ Schön haben wir gesungen, wunderschön, und das Leben war so friedlich, und es hat so wunderbar geduftet, und der Schnee draußen vorm Fenster, also wirklich wie im Traum …«
Shenja läßt den zerflederten Roman auf ihren Leib sinken, wirft über Sojas Kopf hinweg die Zigarette fort und sagt spöttisch: »Euer friedliches Leben, das kennen wir. In den Abort habt ihr die Neugeborenen geschmissen. An euren heiligen Orten treibt sich immer der Teufel rum.«
»Vierzig! Sechsundvierzig hab ich gehabt! Fertig«, ruft die Kleine Manka triumphierend und klatscht in die Hände. »Drei
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