Das Syndikat der Spinne
siehst schon wieder Gespenster, dachte sie und hoffte, dass die andern ihre Gedanken nicht lesen konnten.
Sophia ging zu den Kindern und forderte sie auf, jetzt aus dem Wasser zu kommen, sich abzutrocknen und sich dann im Bad abzuduschen. Sie würde ihnen etwas zu essen machen, und danach sollten die beiden Älteren auf ihre Zimmer und die erst sechsjährige Angelina ins Bett gehen.
Ramona Wiesner hatte Hunger, wusste aber, dass Thomas und Sophia in der Regel nicht vor halb neun oder neun Uhr zu Abend aßen. Sophia hatte das so eingeführt, da sie es von Italien so gewohnt und nicht bereit war, diese Gewohnheit aufzugeben. Ramona trank ihre Cola aus, die Eiswürfel waren mittlerweile geschmolzen, behielt das Glas aber noch in der Hand. Allmählich wurde es still im Haus. Sie warf einen kurzen Blick auf Thomas, der ruhig und gleichmäßig atmete, er war eingeschlafen. Sie stand vorsichtig auf, holte das Handy aus ihrer Handtasche, ging zum Swimmingpool, wo sie ungestört sprechen konnte, und tippte die Nummer von Julia Durant ein.
»Hallo, hier ist Ramona Wiesner. Ich wollte mich nur kurz melden und Ihnen sagen, dass ich heute bei meinem Schwager und seiner Frau übernachte. Nicht dass Sie versuchen mich zu erreichen und sich vielleicht … Ach, was rede ich da, ich glaube, ich bin einfach übermüdet.«
»Schon gut«, sagte die Kommissarin, »ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Haben Sie Ihre Bedenken ausgeräumt, was Ihren Schwager angeht?«
»Vergessen Sie’s, es war einfach dumm von mir. Aber Sie wollten mir vorhin noch etwas sagen …«
»Ich weiß nicht, ob das der richtige Zeitpunkt ist. Kann ich Sie morgen Vormittag zu Hause erreichen?«
»Sicher, aber nicht vor zehn. Vielleicht eine kleine Andeutung?«, fragte Ramona Wiesner neugierig.
»Nein, so wichtig ist das auch wieder nicht«, schwindelte die Kommissarin, »außerdem möchte ich in aller Ruhe mit Ihnen sprechen. Morgen früh um zehn. Einverstanden?«
»Wenn Sie meinen. Es ist doch hoffentlich nichts Schlimmes, oder?«
»Morgen früh, Frau Wiesner, und einen schönen Abend noch.«
Ramona Wiesner drückte die Aus-Taste, steckte das Handy wieder in ihre Tasche und ging ins Haus. Sie hörte leise Stimmen aus dem Obergeschoss. Sich müde und abgespannt fühlend, setzte sie sich auf das Sofa, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und spürte das Pulsieren des Blutes in ihren Schläfen. Die leichten Kopfschmerzen, die schon seit einigen Tagen ihr ständiger Begleiter waren, waren in den letzten Stunden stärker geworden, und dazu kam jetzt auch noch Übelkeit. Sie führte es auf den mangelnden Schlaf zurück und darauf, kaum etwas Vernünftiges gegessen zu haben. Ihr gesamter Tagesrhythmus war durcheinander geraten, seit ihr Mann tot war.
Sophia kam die Treppe herunter und sagte: »Möchtest du dich hinlegen? Du siehst sehr erschöpft aus.«
»Ich glaube, die letzten Tage waren einfach zu viel für mich. Ich habe permanent Kopfschmerzen und mir ist auch andauernd übel.«
»Du wirst sicherlich Hunger haben. Ich mach uns jetzt etwas zu essen, danach geht es dir bestimmt gleich viel besser.«
»Ihr esst doch sonst immer erst sehr spät zu Abend.«
»Dann machen wir heute eine Ausnahme. Außerdem habe ich auch Hunger.«
»Soll ich dir helfen?«, fragte Ramona und stand auf. »Ich muss etwas tun, sonst schlafe ich tatsächlich noch ein.«
»Wenn du willst. Aber es gibt nur eine Salatplatte, etwas Käse und Wurst.«
Ramona und Sophia Wiesner verbrachten eine halbe Stunde in der Küche und unterhielten sich über Belanglosigkeiten, während sie das Essen bereiteten. Über das Wetter, wie Sophias Kinder in derSchule waren, dass es heute Zeugnisse gegeben hatte und alle drei zu den Klassenbesten gehörten – über alles wurde gesprochen, nur das Thema Andreas Wiesner war tabu. Die Kinder hatten zwischenzeitlich etwas zu essen bekommen und waren schon wieder auf ihren Zimmern verschwunden. Der Tisch wurde gedeckt. Sophia ging auf die Terrasse und weckte ihren Mann mit einem Kuss auf die Stirn. Er fuhr erschrocken hoch.
»Essen, mangare, Liebling«, sagte Sophia. »Es ist alles fertig.«
Thomas Wiesner gähnte, rieb sich die Augen und blickte auf die Uhr. »O Mann, wir haben ja schon Viertel vor neun. Ich muss nur mal schnell telefonieren. Bin gleich zurück.«
Er begab sich in den ersten Stock, wo sich auch die Bibliothek befand, machte die Tür hinter sich zu, nahm den Hörer vom Telefon und tippte eine Nummer ein. Er wartete
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