Das Syndikat
der Nagelhaut, er wollte sich nicht vorstellen, was sie mit ihr machten – oder machen würden, wenn etwa schiefging. Konnte er ihnen überhaupt vertrauen?
Es war alles so absurd. Wütend riss er ein Stück Nagelhaut ab, es brannte und begann zu bluten. Seine einzige Hoffnung blieb Peyroux. Dr. Lan Peyroux, die ehrgeizige Wissenschaftlerin, die abweisend wirkende Frau, die es anscheinend nicht nötig hatte, verbindlich zu sein. Kompromisslos, wie sie ihre Forderungen gegenüber der Verwaltung durchdrückte, selbstbewusst, unabhängig. Wie oft hatte er sie um das alles beneidet – und sie deswegen auch gehasst. Jetzt war sie für ihn die Einzige, die in dieser Lage einen Ausweg finden konnte. Aber einen Anruf wagte er nicht. Vielleicht wurde sein Telefon abgehört.
Um vier Uhr ging sie üblicherweise – genau wie er – in die Cafeteria für eine kurze Pause. Meist tauschten sie ein paar Sätze über die Arbeit, mehr nicht. Er musste Kontakt zu ihr aufnehmen! Er löste sich von seinem Schreibtisch, ging zur Tür, stieß sie auf und eilte durch die beiden Korridore zur Cafeteria. Kurz nach vier. Drei Tische waren besetzt, zwei seiner Mitarbeiter nickten ihm zu.
»Haben Sie Dr. Peyroux gesehen?«, fragte er den einen von ihnen, Ivan Leclerc.
»War sie nicht gerade hier?« Leclerc, der Frauentyp, sah sich um. Der, der die Mäuse so genussvoll tötete, dachte Cortot jetzt.
»Ich hab sie nicht gesehen«, mischte sich sein Gegenüber ein. Auch jünger als er und mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen auch ein Anblick, der an seinem Selbstwertgefühl nagte.
Leclerc zuckte mit den Schultern.
Höflich wie er war, bedankte Cortot sich und ging durch den Gang zu ihrer Abteilung, bis ihm eine Glastür – wie in allen Abteilungen üblich – den Weg versperrte. Er gab einen Berechtigungscode ein und seinen Fingerabdruck. Warum noch kein Irisscanner eingerichtet war, wusste er nicht, angeblich gab es Schwierigkeiten mit der Finanzierung.
Die Tür öffnete sich. Peyroux’ Büro lag gleich rechts. Als er klopfte, bemerkte er, dass die Tür nur angelehnt war. Ihr Sessel war leer. Seltsam. Er fragte eine vorbeikommende Mitarbeiterin, sie erklärte ihm, Dr. Peyroux sei schon nach Hause gefahren.
»Ist etwas passiert?«, fragte er alarmiert.
»Nein«, die Mitarbeiterin schüttelte den Kopf, »jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«
Er bedankte sich und eilte einfach weiter. Wie hieß die Tochter noch? Lis oder so ähnlich. Sie war ungefähr neun, soweit er sich erinnerte. Kinder hatten ihn noch nie interessiert. Vor Monaten hatte sie mal Fotos gezeigt, bei Rogers Abschiedsfeier, erinnerte er sich jetzt. Er, Cortot, war am Wochenende davor aus Málaga zurückgekommen und hatte die ganze Woche darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn er irgendwo ein anderes Leben führen könnte. Deshalb war er nicht sonderlich aufmerksam gewesen, er hatte weder Peyroux zugehört, als sie von ihrer Tochter erzählte, noch Thérèse, die ihm von ihrem neuen Job erzählen wollte. Was sollte er jetzt tun? Vielleicht war es längst zu spät, weil sie auch schon unter Druck gesetzt wurde!
Er würde sie doch anrufen. Und wenn sie das in Gefahr brachte? Und Thérèse, jetzt dachte er wieder an sie, sah wieder dieses schreckliche Bild vor sich, seine Frau, den Mund verklebt mit Klebeband, ein Pistolenlauf an ihrem Kopf.
Er fühlte sich müde, es gab einfach keinen Ausweg, am liebsten wäre er zur Polizei gegangen und hätte alles gestanden, von Anfang an. Ja, ich habe Geheimnisse verkauft. Wir experimentierten mit implantierbaren RFID-Biochips, die nicht nur persönliche Daten enthalten, sondern auch mithilfe von frequenzgesteuerten Mikropumpen Medikamente, Hormone und Drogen in den Körper ausschütten. Man hat mir eine Viertelmillion Euro dafür geboten, dass ich sie Mitarbeitern des privaten Sicherheits- und Militärunternehmens Globe implantierte. Nein, die Männer wurden nicht aufgeklärt. Gier. Ich habe es aus Geldgier getan.
Warum schrie er nicht einfach los?
Weil sie Thérèse hatten.
Sie sind ein respektabler Wissenschaftler, Monsieur le Docteur, wir haben Ihre Veröffentlichungen gelesen, höchst interessant, ja leider, der Staat zahlt selten so gut wie die Wirtschaft ... Mit einem Schlag wäre er seine Schulden los, die ihn ein überstürzter Hauskauf und der gleichzeitige Verlust seiner Stelle bei einem privaten Hightech-Unternehmen beschert hatten. Da war die Viertelmillion gerade recht gewesen ...
Ohne dass es ihm
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