Das Syndikat
das Zeug irgendwann Wirkung zeigt.« Der Alte lachte.
»Wie geht’s eigentlich deinem Sohn?«
Wumms! Das alte Schlitzohr! Von hinten durch die Brust ins Auge.
Emerson setzte schnell ein Lächeln auf. »Gut, so weit. Er kommt zurecht.«
»Wann steigt er endlich bei Legend ein, er ist ein kluger Kopf? Er hätte sicher ein paar gute neue Ideen.«
»Jaja«, sagte Emerson schnell, »ich weiß. Sue und ich reden ständig auf ihn ein, aber ...«, er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen, aber es wirkte künstlich, das konnte er spüren, »... aber er will noch ein bisschen Erfahrung sammeln und sich nicht gleich ins gemachte Nest setzen.«
»Ich hab mich ins Nest gesetzt und einen Palast draus gemacht. Sag ihm das mal, vielleicht hilft’s ja.«
»Das haben wir schon, aber er hat seinen eigenen Kopf.«
»Jaja, die jungen Leute, sie glauben, sie müssen mit dem Kopf durch die Wand, aber ...«, der Alte beugte sich vor und sah ihm eindringlich in die Augen, »er wird doch nicht zu den Chinesen übergelaufen sein?«
»Zu den Chinesen?« Emerson stieß ein Lachen aus. »Nein, nein, das macht er bestimmt nicht.«
Der Baron lehnte sich zurück und nickte. »Na dann, Ken ... Übrigens, gestern Abend hab ich wieder im Geschichtsbuch geschmökert. Und jedes Mal gruselt’s mich, wen ich über diesen Tartarenführer lese.«
»Khan Djam Bek«, sagte Emerson. Sie war einfach in ihm, diese Detailversessenheit. Er konnte sich alles merken, wenn er wollte.
Der Alte machte eine wegwerfende Handbewegung, was Emerson jedes Mal ärgerte. »Jaja, jedenfalls dreizehnhundertirgendwas in Genua.«
»Dreizehnhundertsechsundvierzig in Kaffa«, sagte Emerson wieder, er konnte nicht anders. »Das gehörte zu Genua. Genua war damals ...«
»Kaffa, richtig!« Der Alte schnitt ihm einfach das Wort ab. »Er hat Pestleichen über die Stadtmauern katapultiert, damit sie da drin alle krepieren!« Der Alte schüttelte den Kopf. »Und entsorgt hat er sie auf diese Weise auch noch! Das muss man sich mal vorstellen. Genial! Ist es nicht ein unglaubliches Gefühl, ein neues Spiel anzufangen? So unglaublich ... erhebend?«
56
Grenoble
Lan schlug aufs Lenkrad, was sie nie, nie, nie tat. Ein Zeichen von Unbeherrschtheit, Ungeduld. Dabei wusste sie doch, nur mit Geduld und Beharrlichkeit kam man ans Ziel.
Warum dauerte es so lange, bis die Schranke hochging? Und warum ging die Sekretärin in der Schule nicht ans Telefon? Warum war die Abbiegespur so voll? Warum musste gerade jetzt die Ampel ausfallen? Warum hatte sich alles gegen sie verschworen?
Im Stop and go ging es weiter. Beim nächsten Grün würde sie es schaffen. Jetzt! Warum fuhr der vor ihr nicht los? Schlief der? Sie drückte auf die Hupe, lang und mit aller Kraft, als könnte sie dadurch lauter hupen.
Die Ampel schaltete direkt vor ihr auf Rot, doch sie gab Gas und schoss noch über die Kreuzung.
Es war ihr siebter Sinn, der ihr sagte, sie solle sofort zur Schule fahren und Linh abholen. Vielleicht war es auch nur Panik, aber dieser weiße Lieferwagen ging ihr den ganzen Morgen nicht aus dem Kopf, und so war sie kurz entschlossen in den Wagen gesprungen und losgefahren – was ganz und gar nicht ihre Art war.
Wieder versuchte sie es im Sekretariat. Wie konnte das sein? Das Sekretariat war doch immer besetzt!
Rücksichtslos wechselte sie die Fahrspuren, jede Sekunde zählte, vielleicht ... nein, sie wollte noch nicht einmal daran denken ...
Endlich, die Schule! Sie stoppte am Straßenrand, stieg aus und lief durchs Schultor und über den Hof. In welchem Raum war Linh? Sie rannte den Gang hinunter, riss die erste Tür auf. Alle Gesichter wandten sich ihr zu. Die Kinder waren älter als Linh. Sie murmelte eine Entschuldigung, schob die Tür wieder zu und rannte weiter. Linh, Linh, Linh ... Sie riss die nächste Tür links auf.
»Madame?«, fragte die Lehrerin erstaunt.
»Linh«, sagte sie und versuchte, in der Menge ihre Tochter auszumachen. »Linh Peyroux?« Wo war ihre Tochter? Diese Kindergesichter sahen auf einmal alle gleich aus.
»Ach, Linh?«, die Lehrerin lächelte erleichtert. »Linh wurde gerade ins Sekretariat gerufen.«
Wieso gerade jetzt?, dachte sie alarmiert. »Wer? Wer hat sie gerufen?«
»Oh, ein Schüler, er ist wohl beauftragt worden ...«
Sie ließ die Tür offen und rannte wieder los, merkte dann, dass sie ja gar nicht wusste, wo das Sekretariat lag. Den Gang rechts hinunter. Oder links?
Da, endlich, ein Wegweiser! Um zwei Ecken und dann eine
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