Das Syndikat
bewusst geworden war, hatte er den Weg zu seinem Labor eingeschlagen. Eine jüngere Mitarbeiterin warf ihm im Vorbeigehen ein herzliches Lächeln zu, das ihm sonst immer schmeichelte, das er aber jetzt nur mit einem knappen Nicken erwiderte.
Und dann, in seinem Labor, blieb er vor dem Glaskasten stehen und starrte die weißen Mäuse an. Auf einmal erkannte er sich wieder in der weißen Maus, die orientierungslos im Glaskasten herumlief. Keine von ihnen war lebend aus diesem Raum herausgekommen.
58
Brüssel
Der Zug lief pünktlich in den Gare Central ein. Vom Fenster aus erkannte Anna Scarafia ihn schon, obwohl er ein wenig im Hintergrund stand. Ganz der Polizist, der aus der Distanz beobachtet, dachte sie noch.
Fabio roch nach einem Aftershave und Tabak, obwohl er nicht mehr rauchte, und sein silbrig grauer Dreitagebart kratzte, als sie sich zur Begrüßung auf die Wange küssten. Die Falten um seine Augen waren tiefer geworden, er sah überarbeitet aus, aber seine Augen waren wach wie immer. Und seine kurzen grauen Haare machten ihn jünger. Keine Spur von Frust und Depression. Wie macht er das mit Dreiundfünfzig, fragte sie sich und dachte an die vielen anderen Kommissare und Detectives, die schon mit Anfang vierzig am Ende waren.
Er winkte ein Taxi heran, ließ sie einsteigen und schob sich neben sie auf die Rückbank.
Nur kurz berührte er ihr Knie, zufällig fast, und nannte dem Fahrer eine Adresse. Ihr gefiel, dass sie im Taxi nicht miteinander sprachen. Die Lichter wischten vorbei, und sie genoss seine Nähe, obwohl – oder gerade weil – sie sich nicht berührten. Nach Brüssel zum Abendessen! Ashley wäre neidisch. Dabei sah man ihm den Feinschmecker gar nicht an. Aber wem sah man schon den Psychopathen oder Serienkiller an?
Ashley, du wirst dich noch wundern!
»Verrätst du mir, warum du dich in dem Fall so engagierst?«, fragte er, während sie sich an einen der hinteren Tische in einem Edellokal setzten.
Nur kurz hatte sie die zwei Michelin-Sterne am Eingang registriert, und nur wenig länger hatte sie einen Blick auf die Speisekarte geworfen ... Moules à la Crème, Vol au Vent, Lapin à la Gueuze, Carbonades flamandes, Filets de sole à lostendaise, Anguilles au vert ... und wusste nicht, ob sie sich überhaupt entscheiden könnte.
»Also, verrätst du’s mir?«
»Es ist ganz einfach: Ich mag es nicht, wenn man mich für dumm verkaufen will. Ich soll wohl nicht merken, dass alle Zeugen nach und nach sterben.« Sie beobachtete ihn, wie er die steife weiße Serviette auseinanderfaltete und neben seinen Teller legte, eine ruhige Geste, Tausende Male eingeübt, und sagte: »Außerdem will ich Ashleys Job.«
Er sah auf und reichte ihr die Karte. »Aha.«
»Moules parquées. Wenn ich’s nicht überlebe, bin ich wenigstens glücklich gestorben«, sagte sie und klappte die Karte zu. Sein Lächeln kam etwas gequält, und sie musste zugeben, dass sie schon bessere Witze gemacht hatte. »Vielleicht doch lieber Anguilles au vert und dann den Faisan à la brabançonne«, berichtigte sie.
»Schon besser«, er nickte, »und was sagt Ashley zu deinen Ermittlungen?«
»Zugegeben, es war nicht ganz leicht, ihn zu überzeugen. Genau genommen konnte ich ihn gar nicht überzeugen. Ich bin sozusagen in meiner Freizeit hier.«
»Mhm, hab ich mir schon gedacht, dass das Essen nicht auf Spesen geht.« Er lächelte, wie sie es bei ihm mochte, nur ein wenig und nur mit einer Hälfte des Gesichts. »Ich hab Neuigkeiten, die dich sicher interessieren«, sagte er.
In wohliger Erregung lehnte sie sich zurück. »Da bin ich gespannt.«
Er zog sein Smartphone aus der Jacketttasche. Die Lederjacke trug er nicht, wie sie gleich am Bahnhof mit Bedauern festgestellt hatte, aber sie musste zugeben, dass ihm das Jackett auch gut stand. »Übrigens ist Grévys privater Computer verschwunden, und seine Wohnung wurde durchsucht. Nicht von uns. Sieh dir mal die Diashow an.«
Alle Fotos zeigten den untersetzten, kräftigen Oberst in Wüstenfleck-Uniform. Mal mit anderen Soldaten, mal allein, mal vor, mal in einem Jeep, mal mit, mal ohne Gewehr im Anschlag, aber stets in einer trockenen, wüstenartigen Landschaft, über die sich ein strahlendblauer Himmel spannte.
»Seine Afghanistan-Erinnerungen, oder?«, sagte sie ein wenig enttäuscht und gab ihm das Telefon zurück.
»Nein. Das ist nicht die Uniform der ISAF-Truppe. Hier ...« Er tippte etwas ein, und der Jeep wurde herangezoomt. Auf der Tür befand sich, allerdings
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