Das System
Artikel über Chaosforschung
gelesen. »Manchmal kommt es in komplexen Systemen zu merkwürdigen Effekten, wenn sich Rahmenbedingungen nur um eine Kleinigkeit
ändern. Die Wissenschaftler nennen das den Schmetterlingsflügel-Effekt. Wenn ein Schmetterling in Tokio mit den Flügeln schlägt,
kann das theoretisch in Frankfurt einen Sturm auslösen.«
»Einen Sturm vielleicht, aber kein Vakuum«, sagte Grimes. »Außerdem, ich habe heute mit Herrn Martens von der Universia-Versicherung
telefoniert. Er hat mir erzählt, dass DINA häufig Fehler macht und dass die Universia deshalb den Vertrag nicht verlängern
wird.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Sie klangen wie ein Todesurteil.
Mark hatte John Grimes wieder einmal unterschätzt. Er hatte gehofft, die Schwierigkeiten mit der Universia noch lösen zu können.
Auf jeden Fall hatte er die Nachricht, dass der letzte große Kunde von D. I. absprang, so lange wie möglich zurückhalten wollen.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass Grimes selbst einen D.-I.-Kunden anrufen würde. So etwas gehörte sich einfach nicht.
Andererseits hatte er als Mitglied des Aufsichtsrats durchaus das Recht, so etwas zu tun.
Mark brauchte nicht in die Runde zu blicken, um zu wissen, dass er den Aufsichtsrat verloren hatte. Es war undenkbar, dass
jemand in dieser Situation weiteres Geld in die Firma investierte, nachdem D. I. in den vergangenen fünf Jahren regelmäßig
die Umsatzpläne weit verfehlt hatte. Er konnte die Investoren sogar verstehen – sie hatten nur ihre Zahlen im Kopf und begriffen
nichts von der Technik, die |23| hinter den Zahlen stand, von der Brillanz der Programmierer, von der Mühe und Kreativität, die in DINA geflossen waren.
Es sah verdammt schlecht aus für D. I. Aber es hatte schon öfter schlecht ausgesehen, und Mark hatte nie aufgehört zu kämpfen.
Er würde sich auch jetzt nicht geschlagen geben. »Ich bin mit Herrn Martens im Gespräch«, sagte er und versuchte, seiner Stimme
den Optimismus und die Begeisterung zu verleihen, mit denen er schon früher schwierige Situationen herumgerissen hatte. Doch
die Worte klangen selbst in seinen Ohren hohl. »Wir werden die Schwierigkeiten lösen, das verspreche ich Ihnen.«
»Das versprechen Sie!« Grimes schüttelte den Kopf, als könne er diese Aussage nicht fassen. »Sie haben schon so viel versprochen,
Herr Helius. Nur gehalten haben Sie es nicht. Ihre Software hat nie richtig funktioniert, und wenn es so weitergeht, wird
sie auch niemals funktionieren. Es hat nur zu lange gedauert, bis wir das gemerkt haben.«
»Mark, wie sieht denn die Auftrags-Pipeline aus?«, fragte Andreas Heider. »Steht vielleicht ein großer Kunde vor der Tür,
mit dem ihr den Wegfall der Universia ausgleichen könntet?« Wieder einmal versuchte er, einer festgefahrenen Diskussion durch
einen konstruktiven Beitrag eine neue Richtung zu geben. Mark liebte ihn dafür.
»Wir haben ein mündliches Okay von Xtragene für eine Simulation komplexer chemischer Reaktionen auf zellularer Ebene«, sagte
er. »Das ist zwar nur ein kleiner Auftrag, aber ich bin sicher, dass …«
»Selbst wenn die Universia nicht abspringt«, unterbrach Grimes, »hat die Firma nur noch Geld für, Moment …« Er kramte einen
Zettel aus seinem Aktenkoffer hervor. »… für höchstens zehn Wochen. Ich sehe nicht, wie D. I. in dieser Zeit noch auf einen
positiven Cashflow kommen will.«
»Heißt das, dass Change Capital nicht bereit ist, einer Kapitalerhöhung zuzustimmen, wie sie das Management vorschlägt?«,
fragte Helmut Weseling. Mark hätte ihn würgen |24| können. Es war taktisch äußerst ungeschickt, ausgerechnet jetzt so eine Frage zu stellen und Grimes damit zu einer Festlegung
zu zwingen.
»Das heißt es nicht«, sagte Grimes.
Mark blickte überrascht auf. Die Hoffnung ließ sein Herz schneller schlagen.
Grimes sah ihn direkt an, und ein süffisantes Lächeln umspielte seinen breiten Mund. »Aber wenn Change Capital noch einmal
in diese Firma investieren soll, dann muss sich etwas Grundlegendes ändern.«
»Ändern?«, fragte Heider. »Was soll sich denn nach Ihrer Meinung ändern?«
»Nach meiner Meinung«, sagte Grimes ruhig, »braucht Distributed Intelligence ein neues Management.«
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3.
Hamburg-Hafencity,
Mittwoch 17:15 Uhr
»Das kann er doch nicht machen! Dieses fette Schwein!« Marys sommersprossiges Gesicht, das von einem kaum gebändigten Kranz
roter Locken
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