Das System
nächsten Mission an Bord bleiben sollte, war die Wahl von
Mission Control auf ihn gefallen, weil er die Europäische Raumfahrtagentur ESA vertrat, die dank einer Budgetkürzung der Amerikaner
nun der wichtigste Geldgeber der Station war.
Alle gingen sie davon aus, er sei begeistert, länger an Bord bleiben zu dürfen. Selbst Cilia hatte sich gefreut und war |15| stolz auf ihn gewesen. Er hatte geschluckt, versucht, fröhlich zu grinsen, und sich dabei mit dem Gedanken getröstet, dass
die nächste Shuttle-Mission außerplanmäßig schon nach zwei Monaten starten würde, um ihn abzuholen. Doch die Amerikaner hatten
das Shuttle wieder einmal nicht in die Luft gekriegt, und aus den geplanten vierundsechzig Tagen waren inzwischen über hundert
geworden. Der nächste Start war in zwei Wochen geplant. Cantoni betete jeden Tag dafür, dass es diesmal klappen würde.
Er hasste die Enge der Station, den Geruch nach Gummi, Desinfektionsmittel, und menschlichen Ausdünstungen. Er hasste die
Schwerelosigkeit, die einem hin und wieder die Orientierung raubte und immer noch Übelkeitsschübe bei ihm auslöste. Er hasste
die langweiligen Workouts, die seine degenerierten Muskeln straffen sollten, den eintönigen Tagesablauf, die Experimente,
die ihm oft wie reine Beschäftigungstherapie vorkamen.
Er hasste das Gefühl, nur durch eine wenige Millimeter dünne Metallschicht von einer absolut tödlichen Umgebung getrennt zu
sein. Den meisten Menschen auf der Erde war kaum bewusst, dass Raumfahrt immer noch ein gefährliches Abenteuer war, bei dem
man sich ständig an der Grenze des technisch Machbaren bewegte. Dabei genügte schon ein daumennagelgroßer Meteorit oder ein
Stück Weltraumschrott, um ein faustgroßes Loch in diese Hülle zu reißen und ihn auf der Stelle zu töten.
Am meisten jedoch hasste er es, mit diesem ungehobelten Grobian Juri Orlov hier eingesperrt zu sein. Der Kommandant war einer
der erfahrensten Astronauten der Welt. Er war sogar schon an Bord der MIR gewesen. Aber er war launisch und machte aus seiner
Abneigung gegen Cantoni keinen Hehl. Nun wurde er auch noch paranoid und stieß abenteuerliche Verdächtigungen aus, und von
Cantoni wurde erwartet, in dieser Situation die Nerven zu behalten. Dabei war er Biologe und kein professioneller Astronaut.
|16| »Verschwinde!«, zischte Orlov.
»Juri, ich …«
»Verschwinde!«, brüllte der Russe. »Ich will dich hier nicht mehr sehen!«
Jetzt reichte es! »Du dämlicher russischer Idiot!«, schrie Cantoni zurück. »Du gehst mir schon lange auf den Geist mit deiner
rechthaberischen Art, und jetzt fängst du auch noch an durchzudrehen! Reiß dich zusammen, verdammt noch mal! Nur, weil du
der Kommandant bist, heißt das nicht, dass du …«
Orlov stieß einen langen russischen Fluch aus. Dann nahm er eines der Bordhandbücher aus einem Wandschrank und warf es in
Cantonis Richtung. »Verschwinde, Saboteur!«, brüllte er, außer sich vor Wut. »Wenn ich dich noch einmal in der Nähe des Zentralcomputers
erwische, breche ich dir eigenhändig das Genick!«
Cantoni versuchte, dem schweren Gegenstand auszuweichen, doch da er frei im Raum schwebte, konnte er nur hilflos mit den Armen
rudern. Das Plastikbuch traf ihn hart an der Stirn und ließ ihn zurücktaumeln. Ein paar winzige rote Kügelchen schwebten zitternd
davon.
Cantoni fasste sich an den Kopf und starrte ungläubig auf seine blutverschmierten Finger. Er warf Orlov einen hasserfüllten
Blick zu, doch der hatte sich wieder dem Computer zugewandt und ignorierte ihn. Cantoni unterdrückte den Impuls, das Buch
zurückzuwerfen. Langsam zog er sich durch das Schott in das Zarya-Modul, suchte eine Weile nach dem Verbandskasten, fand ihn
schließlich unter einem transparenten Wäschesack aus Plastik und klebte sich ein Pflaster auf. Es war nur eine kleine Platzwunde,
aber doch ein schwerwiegender Vorfall.
Cantoni wusste, dass er Orlovs Verhalten zu melden hatte, aber er entschied sich dagegen. Hier oben war er den Launen des
Kommandanten hilflos ausgeliefert. Die Sesselfurzer von Mission Control konnten rein gar nichts für ihn tun, und |17| eine Meldung würde Orlovs Laune nur noch verschlimmern. Wenn der Shuttle-Start diesmal klappte, würde er bald zu Hause sein.
Die letzten Tage würde er schon noch irgendwie überstehen.
Die meisten seiner Kollegen auf der Erde hätten ihr gesamtes Hab und Gut hergegeben, um an seiner Stelle sein zu dürfen. Doch
er
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