Das Tagebuch der Eleanor Druse
Tafel.
Vermutlich war das jetzt genau einer von diesen bösen Gedanken gewesen, die Dr. Gottreich vorhin gemeint hatte. Ich musste zugeben, dass ich schon öfters heimlich verbotene Dinge getan hatte. So hatte ich zum Beispiel ein Buch über einen bösen Mann gelesen, der eine alte Dame mit einer Axt ermordet hat. Meine Mom hatte mir verboten, dieses Buch zu lesen, aber hinter ihrem Rücken hatte ich es doch getan. Beim Lesen stellte ich mir zuerst vor, dass mich jemand mit einer Axt in Stücke hacken könnte. Ein schrecklicher Gedanke, der mir große Angst einjagte. Aber auf eine ganz seltsame Art war es auch irgendwie aufregend, denn es war ja alles nur ein Gedankenspiel. Niemand wollte mich wirklich mit einer Axt ermorden, ich stellte es mir nur vor, weil es so schön gruselig war. Als Nächstes überlegte ich mir dann, wie es wohl wäre, wenn man selbst eine alte Dame mit einer Axt in Stücke hackte. Eine Dame, die so alt war, dass sie sowieso bald sterben würde. Oder eine, die so gemein und knickrig war, dass es einem nicht viel ausmachen würde, sie mit der Axt zu zerstückeln. Eine Dame, die es verdient hatte, so zu sterben.
Hatte meine Mom vielleicht das Buch gefunden? Machte sie sich deshalb so große Sorgen? Und waren es die Gedanken, die ich beim Lesen gehabt hatte, die meine Mom und den Doktor so beunruhigten? Andere Menschen sind vielleicht so gut, dass sie nicht einmal daran denken, böse zu sein. Sie würden von einem Buch, in dem ein böser Mann eine alte Dame mit einer Axt umbringt, vielleicht zwei Sätze lesen und es dann angewidert in die Ecke schleudern. Vielleicht war ich anders als diese Menschen. Vielleicht musste man etwas unternehmen, bevor sich meine von solcher Lektüre angestachelten bösen Gedanken in böse Taten verwandelten und ich zu einer zweiten Lizzy Borden wurde.
»Ich möchte nicht, dass dein Vater etwas von deinen Gedanken erfährt«, sagte Dr. Gottreich.
»Nein!«, rief ich aus. »Bitte, sagen Sie es nicht Pa Bear!«
»Alles, was wir hier besprechen, bleibt unser Geheimnis«, sagte er. »Wir erzählen weder deiner Mutter noch deinem Vater etwas von deinen bösen Gedanken. Weißt du was? Wir sorgen einfach dafür, dass sie für immer verschwinden. Würde dir das gefallen?«
»Ja«, antwortete ich. »Können Sie das denn machen?«
»Ja, das kann ich, mein Kind.«
»Mit einer Tablette? Mit Medizin?«
»Mit einer ganz einfachen Operation«, erwiderte er. »Es dauert nur ein paar Minuten.«
»Und tut es weh? Tut es weh, wenn Sie meine bösen Gedanken wegoperieren?«
»Nur ein kleines bisschen, und dann wird alles besser«, sagte er. »Mit den Schmerzen ist das so eine Sache. Wenn sie nur ein oder zwei Sekunden andauern und dann wieder verschwinden, ist es ja nicht so schlimm, oder?«
»Ich weiß nicht so recht«, erwiderte ich. »Wenn es wehtut, ist es immer schlimm.«
»Aber ist es nicht auch irgendwie schön, wenn einem etwas wehgetan hat und der Schmerz dann nachlässt? Wenn der Schmerz nicht mehr da ist, bist du glücklich, selbst wenn du dich vor dem Schmerz schrecklich gelangweilt hast. Verstehst du das?«
Eigentlich verstand ich es nicht. Ich versuchte, von dem Tisch herunterzukommen, bevor er mir etwas antat.
»Hoppla. Wo willst du denn hin, junges Fräulein?«
Er packte mich und setzte mich zurück auf den Tisch.
»Noch etwas ist merkwürdig am Schmerz. Stell dir vor, was wäre, wenn etwas wirklich Schlimmes und Schmerzhaftes mit dir geschehen würde und du dich danach nicht mehr daran erinnern könntest. Dann wäre es doch so, als ob es nie passiert wäre.«
»Wenn etwas schlimm ist und wehtut, dann erinnere ich mich bestimmt daran«, entgegnete ich.
»Das muss nicht immer der Fall sein«, sagte Dr. Gottreich.
»Es gibt Medikamente und Inhalationsmittel, die dafür sorgen, dass man sofort wieder alles vergisst. Und dann? Dann ist es so, als wäre nichts geschehen.«
»Aber ich will nicht, dass überhaupt etwas geschieht, ganz gleich, ob ich mich später daran erinnere oder nicht.«
»Und was wäre, wenn du und ich das Problem mit den Schmerzen lösen würden? Denk doch mal darüber nach. Was wäre, wenn wir herausbekämen, warum Schmerzen wehtun, und einen Weg fänden, das zu verhindern? Denk doch nur daran, wie vielen Menschen man damit helfen könnte.«
Ich versuchte, an diese Menschen zu denken, obwohl ich eigentlich nur eines wollte: fort aus diesem Raum.
»Um das zu erforschen, müssen wir jemandem Schmerzen zufügen, aber was wäre, wenn wir
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