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Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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damit er mit seinem Stethoskop meine Lungen abhorchen konnte. Das Ding war immer kalt wie eine Hundeschnauze, weshalb es die Schwestern auch immer erst mit ihren Händen etwas aufwärmten. Dr. Gottreich tat das nie.
    »Tief einatmen«, sagte er. »So ist’s gut.«
    Seine Stimme klang wie ein freundliches Schnurren.
    Während er mich abhorchte, betrachtete ich die medizinischen Schautafeln an der Wand hinter ihm. Es waren Darstellungen von offenen Schädeln mit Bezeichnungen für die einzelnen Teile des Gehirns, Skelette, bei denen jeder einzelne Knochen genau beschriftet war, Querschnitte durch Augen und Zeichnungen von Augenhöhlen, durch die Linien und Pfeile in verschiedenen Winkeln ins Gehirn führten.
    »Und was macht der Husten, Sally?«, fragte er mit freundlicher Stimme.
    »Manchmal ist er ziemlich schlimm«, erwiderte ich.
    »Hast du denn auch immer brav deinen Rotkleetee getrunken?« 
    »Ja«, sagte ich.
    »Wunderbar. Dieser Tee wirkt nämlich schleimlösend. Das heißt, dass er dir hilft, das ganze schlimme Zeug aus deinen Lungen zu husten. Und? Warst du artig auf der Kinderstation?«
    »Ja«, antwortete ich nach kurzem Zögern mit etwas unsicherer Stimme. In der Nacht zuvor hatte die Nachtschwester Maddy und mich dabei erwischt, wie wir lange, nachdem das Licht ausgemacht worden war, noch miteinander gespielt hatten, und zwar außerhalb der hölzernen Trennwände, die uns eigentlich von den anderen Kindern isolieren sollten, damit wir sie nicht mit unserem Keuchhusten anstecken konnten. Die Schwester war richtig böse geworden, und seitdem hatten Maddy und ich Angst, dass sie den Vorfall Dr. Gottreich melden oder in unseren Krankenakten vermerken würde.
    Dr. Gottreich langte nach oben und schaltete eine große Operationslampe ein. Sie war aus Metall und hatte große Glasbirnen mit feinen Glühdrähten. Dann öffnete er eine große schwarze Doktortasche mit Metallbeschlägen und wühlte darin herum.
    »Deine Mommy hat mir erzählt, dass du manchmal ein unartiges kleines Mädchen bist.«
    Seine Stimme klang so, als fände er das überhaupt nicht schlimm, weil er sich noch recht gut daran erinnern konnte, dass auch er einmal ein unartiger kleiner Junge gewesen war.
    Irgendwie hatte ich das Gefühl, als mache er sich sogar über meine Mutter lustig.
    »Mir kommt sie ein wenig streng vor«, fuhr er fort. »Aber ich habe ihr gesagt, dass es deiner Gesundheit sehr förderlich wäre, wenn sie dir ab und zu ein paar Süßigkeiten geben und dir mehr schöne Dinge erlauben würde.«
    »Wirklich?«, sagte ich. »Vielen Dank.« 
    Seine Instrumente in der Tasche klapperten gegeneinander, offenbar hatte er noch immer nicht das richtige gefunden.
    Schließlich holte er einen Zungenspatel hervor und trat wieder auf mich zu.
    »Deine Mommy hat mir erzählt, dass du hin und wieder Wutanfälle hast«, sagte er mit einem leisen Kichern. »Sie sagt, dass du dich manchmal nicht beherrschen kannst.«
    »Hat sie das wirklich gesagt?«, fragte ich.
    »Wir sind also doch nicht immer artig, nicht wahr?«, meinte er und lächelte dabei.
    Er knipste eine helle Lampe an, die sich direkt über meinem Kopf befand, klappte den Stirnspiegel herunter und schaute durch das Loch in seiner Mitte. Während er die Lampe justierte, sah ich mein grotesk verzerrtes Gesicht in der glänzenden Schale mit dem Auge in der Mitte. Hinter dem Spiegel sah Dr. Gottreich aus wie ein Zyklop mit einem Kopf aus poliertem Metall, dessen konkave Oberfläche das harte, helle Licht gebündelt zurückwarf. Es war so grell, dass ich die Augen zusammenkneifen musste.
    »Und jetzt mach den Mund auf und sag Aaah«, sagte er und starrte mich mit seinem Zyklopenauge durchdringend an.
    Ich tat, was er von mir verlangte, musste dabei aber so stark husten, dass ich nicht mehr aufhören konnte.
    »Da, halt dir das vor den Mund«, sagte er und reichte mir ein Tuch.
    Ich nahm das Tuch, aber weil Blutflecken drauf waren, ekelte ich mich davor.
    »Vor den Mund!«, befahl er.
    Und ich gehorchte.
    Als mein Hustenanfall vorüber war, sagte ich: »Da ist ja Blut auf dem Tuch.«
    »Na und?« 
    Wieder musste ich den Mund aufmachen, und Dr. Gottreich richtete den Stirnspiegel auf meinen Rachen. Vor lauter Angst, abermals husten zu müssen, traute ich mich nicht zu atmen. Ich starrte auf sein Auge und wartete.
    »Ich sehe da etwas, das mir nicht gefällt«, sagte er schließlich. Seine Stimme hatte ihr warmes Schnurren verloren und klang jetzt so kalt und durchdringend wie das

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