Das Tagebuch der Eleanor Druse
eine Medizin hätten, die einfach die Erinnerung an die Schmerzen tilgt, die er bei dem Experiment erlitten hat? Wäre das nicht schön?«
Wieder versuchte ich, vom Tisch zu klettern, aber Dr. Gottreich hinderte mich abermals daran.
»Warum legst du dich nicht einfach hin und ich sorge dafür, dass du nie wieder böse Gedanken hast?«
»Ich will das nicht«, antwortete ich. »Ich habe Angst, dass es wehtut.«
Dr. Gottreich drehte mir den Rücken zu und kramte in seiner Instrumententasche. Dann nahm er ein weiteres Tuch zur Hand und träufelte aus einer braunen Flasche eine ölige, stark süßlich riechende Flüssigkeit darauf.
»Es tut nicht weh«, sagte er. »Zähneziehen ist viel schlimmer. Und selbst an das kleine bisschen Schmerz wirst du dich später nicht erinnern, das verspreche ich dir.«
Ich sah, wie er einen langen, spitzen Gegenstand mit einem merkwürdigen Griff am Ende in die Hand nahm. Als er meinen Blick bemerkte, legte er ihn vor sich auf den Tisch und breitete ein blassgrünes Tuch darüber.
Ich schaute hinauf zu der Tafel mit dem aufgeschnittenen Schädel und der langen, dicken Nadel. Jetzt, da mich das Licht von Dr. Gottreichs Stirnspiegel nicht mehr blendete, konnte ich das Bild viel besser sehen und erkannte, dass in den Augenhöhlen des Schädels keine Stricknadel steckte, sondern ein langes, spitzes Instrument mit einem Griff am anderen Ende. Es erinnerte mich von der Form her an einen Eispickel und sah genau so aus wie das Ding, über das Dr. Gottreich gerade das blassgrüne Tuch gebreitet hatte.
Seine Stimme hatte wieder das leise, sanfte Schnurren, mit dem er zu unseren Eltern sprach.
»Leg dich hin, Sally.«
Ich wollte mich nicht hinlegen, aber er packte mich mit seiner knochigen Klauenhand am Hals und drückte meinen Oberkörper unsanft auf den Tisch.
Wieder starrte ich hinauf zu der Schautafel mit dem Schädel, der Hand im Gummihandschuh und dem Instrument, das aussah wie ein Eispickel. Jetzt, da ich auf dem Rücken lag, sah ich die Tafel aus einem anderen Winkel, und die Buchstaben spiegelten nicht mehr, so dass ich die Worte der Überschrift deutlich lesen konnte. Verstehen konnte ich sie allerdings immer noch nicht. Die Überschrift lautete: TRANSORBITALE LOBOTOMIE.
Ich fing an zu weinen und musste wieder husten, und da bemerkte ich, dass außer mir noch jemand im Schmerzraum mit mir weinte. Ein anderes kleines Mädchen. Zunächst dachte ich, es wäre Maddy Kruger, aber die war es nicht. Dieses kleine Mädchen war knochenbleich, und sein schmutziges altes Krankenhaushemd hing ihm in ausgefransten Fetzen am Körper. Die Kleine war hier und doch wieder nicht hier, denn ich konnte durch sie hindurch auf die Gläser mit den brodelnden Flüssigkeiten direkt hinter ihr blicken. Mit der einen Hand presste sie eine Puppe an die Brust, und in der anderen läutete sie eine kleine Glocke, die ihr an einem Seidenband um den Hals hing. Dabei weinte sie sogar noch lauter als ich und hatte ebenso dunkle Ringe unter den Augen wie Madeline.
Ich glaube nicht, dass Dr. Gottreich sie sehen konnte, denn er legte in aller Ruhe seine Instrumente zurecht für das, was er mit mir vorhatte. Dabei sah ich auch das spitze Instrument mit dem Handgriff, das eher wie ein Werkzeug zur Bearbeitung von Holz oder Metall aussah und nicht wie etwas, womit ein Arzt sich an einem kleinen Mädchen zu schaffen machen sollte. Was hatte dieses Ding, das aussah wie ein Eispickel, in einer Arzttasche verloren?
»Ich will nicht mehr, dass Sie meine Gedanken wegoperieren«, sagte ich. »Ich möchte zurück in mein Bett.«
»Hasst du denn deine Mommy?«, fragte er mich und sah mich aus kalten, schwarzen Augen an. »Hasst du sie so sehr, dass du ihr unbedingt wehtun willst? Ist das der Grund dafür, dass du mich deine bösen Gedanken nicht wegoperieren lässt?«
»Nein«, schluchzte ich. »Ich hasse meine Mommy nicht. Ich liebe meine Mommy!«
»Liebe?«, fragte er mit einem widerwärtigen Lachen. »Willst du wissen, was Liebe ist?« Ich musste husten und konnte nicht mehr aufhören. Keuch. Keuch. Keuch.
Er träufelte noch mehr von der Flüssigkeit auf das Tuch. Von dieser öligen, süßlich riechenden Flüssigkeit.
Keuch, keuch. Ich konnte nicht aufhören zu husten. Ich bekam keine Luft mehr.
»Halt dir das vor den Mund«, sagte er und reichte mir das Tuch.
»Na los, mach schon«, drängte er und presste mir das Tuch auf Mund und Nase.
Die Flüssigkeit roch wie Terpentin, und mir war schon nach dem ersten
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