Das Tagebuch der Eleanor Druse
niemals wahr machte? Wenn er mich auf solche Gedanken ansprach, die ich mir als böses kleines Mädchen zusammengeträumt hatte, wenn ich eigentlich meine Arbeit oder meine Hausaufgaben hätte machen sollen, würde ich sie zugeben müssen, denn sie trugen ja überall meine mentalen Fingerabdrücke.
Wer weiß, vielleicht schaffte er es ja, mir mit Hilfe seiner Instrumente oder auch nur seiner ärztlichen Intuition direkt ins Gehirn zu schauen und dort mit seinem Spiegel genauso herumzuleuchten wie in der dunklen Tiefe meines Rachens?
»Du darfst das deiner Mutter nicht erzählen«, sagte er.
Was durfte ich ihr nicht erzählen? Er hatte doch noch gar keine meiner Untaten genannt, hatte doch noch gar nicht gesagt, was ihm an mir nicht gefiel. Vor lauter Angst traute ich mich nicht, ihn danach zu fragen, denn vielleicht war es zu fürchterlich, um es auszusprechen.
»Wir wollen deiner Mommy doch nicht noch einmal Kummer bereiten. Wenn du schlechte Gedanken hast, musst du sie mir erzählen, aber auf keinen Fall den anderen Kindern. Du darfst überhaupt nicht mit ihnen reden oder spielen, weil du sie sonst mit deinem Husten ansteckst. Und deiner Freundin darfst du auch nichts erzählen. Wie heißt sie gleich noch?«
»Madeline?«
»Ja, die meine ich. Mit der darfst du auch nicht reden. Sie ist eine Unruhestifterin. So, wie sie, willst du doch sicher nicht werden.«
»Warum? Was habe ich getan, dass ich …« Am liebsten hätte ich losgeheult, so streng und kalt klang er auf einmal.
Dann sah er, dass ich ganz durcheinander war, und seine Stimme nahm wieder ihr beruhigendes Schnurren an.
»Manchmal darf man ja auch böse sein«, sagte er und tätschelte mir den Kopf. »Niemand ist vollkommen. Gott hat beides erschaffen, Gut und Böse, und uns hat er so gemacht, dass wir zwischen beiden wählen können. Das nennt man den freien Willen. Wenn Er gewollt hätte, dass wir immer nur gut sind, dann hätte Er uns nicht diese Wahlmöglichkeit gegeben.
So aber lässt uns Gott an jedem Tag aufs Neue die Entscheidung treffen: Soll ich heute gut oder böse sein?« Er kicherte wieder. »Oder vielleicht beides? Einfach so, zur Abwechslung?«
»Ich will nicht böse sein«, sagte ich. »Niemals.«
»Das weiß ich«, erwiderte er. »Aber manchmal hast du trotzdem ziemlich böse Gedanken, oder etwa nicht?«
Lügen wäre sinnlos gewesen. »Ja«, antwortete ich.
»Gott hätte es sich einfach machen und alle Menschen, dich und mich eingeschlossen, so erschaffen können, dass sie ausschließlich gut sind«, sagte er. »Die ganze Welt könnte voller guter Menschen und Dinge sein.«
»Und warum hat Er das nicht getan?«
»Vermutlich, weil das ziemlich langweilig wäre. Wenn alle den lieben langen Tag nur gut wären und es überall nur gute Dinge gäbe, dann wäre das Gute ziemlich schnell ein alter Hut, nicht wahr? Überall, wo man hinschaut, wäre nur das Gute.
Und gerade das Gute kann so langweilig sein. Wenn alle nur das tun würden, was man von ihnen verlangt, gäbe es keine Kreativität. Gott wollte, dass es hier auf Erden interessant ist und dass es interessante Menschen gibt. Nimm bloß mal dich und mich. Wir sind manchmal ganz schön interessant und überraschend, weil wir meistens gute Dinge tun und manchmal …«
Er lächelte mich an und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»… manchmal malst du dir in Gedanken aus, dass Menschen, die du nicht magst, ganz fürchterliche Dinge zustoßen, und manchmal wünschst du so was sogar deiner Mommy und deinem Pa, stimmt’s?«
Schon möglich. Ich konnte mich nicht erinnern. Aber wahrscheinlich hatte er Recht.
»Solche bösen Gedanken sind ganz normal«, fuhr er fort.
»Du musst dir deswegen keine Sorgen machen. Aber deine Mommy kennt deine bösen Gedanken, und sie macht sich Sorgen um dich. Ich werde ihr jetzt also sagen, dass wir uns darüber unterhalten haben und sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Und wenn du wieder solche schlimmen Gedanken hast, erzählst du sie mir, und wir kümmern uns darum. Wenn es sein muss, können wir sie sogar für immer vertreiben. Würde dir das gefallen?«
Sein Kopf befand sich wieder vor der Schautafel mit dem Schädel, dem in einer Augenhöhle eine lange Nadel steckte.
Wieder versuchte ich, die Überschrift zu entziffern: TRANSPORT ITALIEN LOKOMOTIVE. Einen Augenblick lang fragte ich mich, was wohl geschehen würde, wenn man Dr. Gottreich eine solche Nadel in die Augen stechen würde wie dem Totenschädel auf der
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