Das Tagebuch der Eleanor Druse
Bewusstsein, aber sein Atem wurde immer schwächer. In einem seiner lichten Momente gelang es mir, ihn um seine Hilfe zu bitten und zu erklären, was er in den Augenblicken unmittelbar nach seinem Tod zu tun hatte.
Ich war ganz von meinem Auftrag erfüllt, bis ich schließlich innehielt und mir vornahm, diesen Augenblick bewusst zu erleben, diesen wichtigen Augenblick, angefüllt mit Leben.
Beherrscht vom Tod.
»Lenny«, sagte ich, »mein schöner, wunderbarer Geliebter.
Jetzt geht es dem Ende zu.«
Ich küsste ihn auf die Wange, und als ich ihm seine schuppige alte Haut mit Eukalyptus-und Pfefferminzöl einrieb, lächelte er mich an, und ich wusste, dass er noch immer bei mir war.
Einmal noch, für alle Ewigkeit. Auf der Station Sonnenschein war es still bis auf das leise Summen von Lennys Morphiumpumpe und das Heulen des Sturms, der dicke Schneeflocken an die Fensterscheiben wehte.
Lenny drehte seinen Kopf zur Seite, als wollte der tapfere Krieger nicht, dass ihm eine alte Frau in der Stunde seines Todes ins Gesicht sah.
»Bist du das, Sally?«
»Ja, Lenny«, antwortete ich. »Ich bin hier.«
»Wo bist du denn mein ganzes Leben lang gewesen, Sally?«
Er kicherte leise vor sich hin, aber in einem seiner Augenwinkel entdeckte ich eine Träne.
»Ich habe Geister gejagt, Lenny.«
Er lachte. »Du und deine Geister.«
»Ja«, sagte ich. »Sally und ihre Geister.«
»Ich habe dich so sehr geliebt, Sally. Dich und deine verrückten Geister.«
»Meine verrückten Geister«, sagte ich.
Langsam begann ich damit, Rosenblüten über ihn zu streuen.
Ich kämmte sein weißes Haar und streichelte ihn zärtlich, solange er mich noch spüren konnte.
»Na, hättest du Lust, Sally, wollen wir es noch einmal in einem Sessel machen?«
Er hatte seinen Humor noch immer nicht verloren, aber sein Atem ging jetzt unregelmäßig und schwer, und manchmal setzte er auch ganz aus, so dass ich schon fürchtete, er sei bereits gestorben.
»Nur dieses eine Mal«, flüsterte er.
»Nur dieses eine Mal«, entgegnete ich, »aber es war für alle Ewigkeit.«
Ich spürte, wie das Gebäude von einem kleinen Erdbeben erschüttert wurde.
Ich hatte alle meine Rosenblüten über ihn gestreut, und er war jetzt ganz damit bedeckt.
»Jetzt ist es wirklich so weit, was?«, fragte er. »Die Schlitzaugen konnten mich nicht umbringen, aber jetzt hat es mich wohl wirklich erwischt.«
»Hast du Angst, Lenny?«
Er lächelte. »Ein bisschen.«
»Das brauchst du nicht. Da drüben triffst du die ganzen verrückten Geister. Und ich komme auch bald nach. Schließlich bin ich auch nicht mehr die Jüngste.«
»Sally … hörst du auch eine Glocke?«
Ich lauschte angestrengt, und tatsächlich konnte ich ganz leise die Glocke des kleinen Mädchens hören.
»Willst du noch immer, dass ich dieses kleine Mädchen für dich finde?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich.
Sein Unterkiefer klappte nach unten, und er sagte nichts mehr.
»Lenny?«
Er lächelte wieder und schnappte mit bebendem Zwerchfell begierig nach Luft.
Ich zündete die Kerze an, die ich auf den Nachttisch neben dem Bett gestellt hatte.
»Lenny, vergiss nicht, was ich dir über die Kerze gesagt habe. Wenn du hinübergehst, dann bist du im ersten Zustand nach dem Tod, den Swedenborg das ›Zwischenreich‹ genannt hat und den man durchqueren muss, um ins Licht zu gelangen.
Ich vermute, dass du in diesem Zwischenreich das kleine Mädchen finden wirst, nach dem ich suche. Es ist darin gefangen, und ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht mal, wie es heißt. Wenn du hinübergehst, wirst du ein Licht sehen – ein warmes, helles Licht. Du wirst in dieses Licht hineingehen wollen. Aber tu es noch nicht gleich! Bleib noch eine Weile in dem Zwischenreich, rufe dort nach dem kleinen Mädchen, und stelle eine Verbindung zwischen mir und ihm her. Es wird sich nicht von dir ins Licht führen lassen, deshalb musst du ihm sagen, dass es in die Kerzenflamme blasen soll, wenn es mich hört. Sag der Kleinen, dass ich ihr helfen will, wenn sie mich lässt. Ich glaube, dass wir Seelenverwandte sind, jenseits von Raum und Zeit. Aber ich habe noch nicht herausgefunden, warum. Sag ihr, dass sie mir ihren Namen sagen muss, nur dann kann ich herausfinden, was mit ihr geschehen ist.«
Lennys Unterkiefer klappte wieder nach unten, und er war ganz still.
Ich nahm seine Hand und küsste sie. Dabei liefen mir Tränen über die Wangen.
»Lenny, bist du noch da?«
Keine Antwort. Aber dann fing die
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