Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
nicht.«
Er hört mich nicht mehr. Seine Augen sind weit geöffnet. Er starrt auf den Streifen Licht, der von oben in die Gletscherspalte fällt.
Ich halte seine Hand. Es kann nicht mehr lange dauern. Ich spüre es.
»Manche Fragen«, er muss alle Kraft beim Sprechen zusammennehmen, damit ich ihn überhaupt verstehen kann. »Sind unlösbar. Zum Beispiel, was ist besser? Tod oder Unsterblichkeit.«
»Woher sollte ich wissen, was richtig ist?«
Die erste Stimme.
»Das ist das ewige Dilemma. Du bist mir ähnlich.«
»Du kennst mich nicht.«
Sekundenlang herrscht Stille. Ein leises Röcheln ist zu hören.
»Manche Fragen sind unlösbar. Zum Beispiel, was ist besser?«
Plötzlich dumpfes Rauschen, ein Dröhnen, als ob sich ein Gewitter ankündigt. Die weiteren Worte werden verschluckt.
Und dann:
»Tod oder Unsterblichkeit?«
Ich starre auf die weiße Fläche. Meine Augen flimmern. Mein Herz schlägt laut und schwer. Dann ist es zu Ende. Der Bildschirm schaltet sich ab. Springt wieder an und das Ganze beginnt von Neuem. Ich kann es nicht starten. Nicht beenden.
Eine Endlosschleife. Es wiederholt sich von selbst.
Und wieder am Ende: »Tod oder Unsterblichkeit?«
Und das Ganze wieder von vorne.
Der Bildschirm ist weiß. Aber zwei Leute reden. Und der Titel: Your Choice.
»Tod oder Unsterblichkeit?«
Rauschen. Dröhnen.
»Tod oder Unsterblichkeit?«
Ich kann nicht mehr!
Ich kann nicht mehr zuhören, will nicht länger Zeuge dieses Wahnsinns sein.
Denn eine von beiden Stimmen kenne ich, ich kenne sie nur allzu genau.
Sie gehört mir.
Ich mache gar nicht den Versuch, den Laptop auszuschalten. Stattdessen drehe ich ihm den Rücken zu, zerre die Tür vom Schreibtisch auf, dass sie fast aus den Angeln fällt. Mit zitternden Fingern ziehe ich die drei Aktenordner heraus, die so gut wie leer sind. Mathematischer Grundkurs Mai 2010. Er landet auf dem Boden. Meine Hand schiebt sich in den hinteren Teil des unteren Faches, bis ich die Papierrolle spüre, die ich mit Klettband an das Holz geklebt habe. Meine Rückversicherung. Der letzte Joint, den ich mit Tom rauchen wollte, an jenem Abend vor dem Amoklauf, an dem er nicht erschienen ist.
Ich löse ihn vorsichtig ab, ziehe meine Hand aus dem Fach. Als der Geruch mir in die Nase steigt, geht es mir schon besser. Langsam öffne ich die Tüte und fasse mit der Fingerspitze hinein. Das Zeug hält auch nicht ewig. Nichts hält ewig.
Die Versuchung ist groß.
Dead Days
No. 3
Es heißt, der Mensch soll sich die Erde
untertan machen.
Ich frage mich nur, welcher Mensch?
D. Y.
Please Hold the Line
I rgendetwas hatte Debbie aus dem Schlaf gerissen. Ein Geistesblitz. Eine Erinnerung. Eine Erkenntnis, die sie, kaum hatte sie die Augen aufgeschlagen, schon wieder vergessen hatte.
Oder war sie einfach nur aufgewacht, weil ihr noch etwas vom Barbecue in den Zähnen hing?
Mist.
Sie fuhr mit der Zunge in ihrem Mund herum, konnte jedoch nichts finden. Stirnrunzelnd versuchte sie, sich zu erinnern. Aber entweder war sie noch nicht wach genug oder … der Gedanke war in einem der schwarzen Löcher ihres Gehirns verschwunden. Jedenfalls war er wichtig gewesen. Sie atmete laut und ihr Herz klopfte vor Aufregung.
Sie starrte an die Zimmerdecke. Wie gut es doch war, dass es hier oben im Tal keine Tiere gab, denn sonst wären die dunklen Balken dort oben der ideale Nistplatz gewesen. Spinnen, Fliegen oder anderes Ungeziefer.
Wovon war sie aufgewacht?
Draußen goss es. Die Luftfeuchtigkeit im Zimmer betrug mindestens siebzig Prozent. Die Bettdecke fühlte sich kalt und klamm an, dennoch registrierte Debbie, dass sie total durchgeschwitzt war. Eklig, wie der Flanellstoff ihrer Bettwäsche an ihrem nackten Körper klebte. Debbie schlief nackt, das war auch einer der Gründe, weshalb sie ihr Zimmer stets abschloss, bevor sie ins Bett ging. Hier am Grace gab es so gut wie keine Privatsphäre.
Entgegen der sonstigen Stille drangen mit einem Mal ungewohnte Geräusche von unten zu ihr hoch in das zweite Stockwerk. Ein Brummen, als ob ein – nein, mehrere Motoren liefen. Ein Klappern oder Rasseln? Aber dazu kamen noch Stimmen, die sich etwas zuriefen. Irgendetwas ging dort draußen vor sich.
In der nächsten Sekunde schlug Debbie die Bettdecke zur Seite und – oh, sie schauderte, sobald ihr Fuß den kalten Boden berührte. Egal. Drei Schritte, und sie hing bereits am Fenster. Die Sonne, die über dem Ghost aufgegangen sein musste, befand sich irgendwo im Nirwana
Weitere Kostenlose Bücher