Das Tal der Hundertjährigen
Nähe der Stelle herum, an der er seinen Lebenspartner verloren hatte. Nicht einmal der
Tod konnte sie trennen.
Ich entdeckte ihn, als ich den Deckel des Abfalleimers im Bad anhob. Er war riesig, glänzend, feingliedrig. So schnell es
seine acht monogamen Beine ihm erlaubten, flüchtete er sich in ein sicheres Versteck, doch ich hatte meine chemische Waffe
bereits zur Hand.
Es war ein grausames Schauspiel. Panisch fuhr der Skorpion seine winzigen Zangen aus und versuchte mich dann zu stechen. Daraufhin
drehte er sich wie wild und versetzte sich schließlich selbst den tödlichen Stich mit seinem Stachel. Und so setzte er, aus
Furcht oder Groll, selbst seinem Leben ein Ende.
|70| Wir verbinden Tierschutz immer mit dem Anliegen, die Natur so zu respektieren, wie sie ist. Dabei teilt das menschliche Denken
sie nach eigenem Gutdünken messerscharf in Kategorien ein. Man kennt die Kampagnen zum Schutz der Säugetiere – aber interessiert
sich jemand für das Leiden der Ratten oder Küchenschaben? Oder für diesen ecuadorianischen Skorpion, der gerade dran glauben
musste? In diesem Sinne, behaupte ich, ist die Natur eine menschliche Erfindung.
Denken entspricht der Natur des Menschen. Bedauerlicherweise können auch hochtoxische Substanzen dabei herauskommen. Allerdings
ist der Mensch ebenso in der Lage, Schaden zu verhindern oder zu begrenzen, seinen Lebensraum konstruktiv zu gestalten und
zu verändern. Es gibt keine übergeordnete natürliche Instanz auf der einen Seite und auf der anderen den entfremdeten, in
Ungnade gefallenen Mensch, dem vor seinem eigenen Denken angst und bange werden muss. Sich vorzustellen, dass ein langes,
gesundes Leben allein einer bestimmten Ernährung geschuldet ist, schadet niemandem. Es ist auch nicht verwerflich, solange
es nicht ideologisch wird. In der Natur gibt es nicht die eine Wahrheit, nur Tiere und Pflanzen und Flüsse.
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Mir gegenüber sitzt Víctor Carpio und wartet ungeduldig darauf, dass ich endlich das Aufnahmegerät einschalte.
Als Erstes erwähnt er Mario Moreno.
»Mario Moreno?«
»Ja, Mario Moreno, alias Cantinflas, der populärste Komiker der spanischsprachigen Welt.«
Víctor lacht, er ist stolz, dass Cantinflas, ein internationaler Star, fast ein Jahr in Vilcabamba verbracht hat. Als hätte
etwas von seinem Glanz auf das Tal abgestrahlt. Eine Berühmtheit wie Cantinflas hätte überall auf der Welt absteigen können,
aber er wählte Vilcabamba, Víctors Dorf.
Mario Moreno ist vor allem in einer Rolle berühmt geworden: Er spielte einen einfachen Mexikaner, den er als Meister des Wortspiels
inszenierte und der seine Gesprächspartner – meist hohe Persönlichkeiten – zur Verzweiflung brachte, indem er die Sätze verdrehte,
bis sie keinerlei Sinn mehr ergaben. Wer sich auf eine Unterhaltung mit dem |72| Mexikaner einließ, wusste am Ende nicht mehr, was er eigentlich sagen wollte. Schnell eroberte Moreno alias Cantinflas mit
dieser Figur das Publikum, ständig kamen neue Filme heraus. Im Jahr 1978 jedoch gab er nur wenige öffentliche Auftritte, bis
er eine Weile komplett von der Bildfläche verschwunden war. Während dieser Zeit hatte er sich in Vilcabamba aufgehalten, inkognito,
in einem zwischen Bäumen versteckten Haus.
Im Ort erzählt man sich, die Ärzte seien mit ihrem Latein am Ende gewesen. Moreno habe Herzbeschwerden gehabt, und ein Aufenthalt
in dem Tal war ihm als letzte Rettung erschienen. Und man erzählt sich weiterhin, dass die Jahre, die er anschließend noch
auf der Bühne gestanden habe, ihm in Vilcabamba geschenkt worden seien: Die Erde habe seine Erschöpfung absorbiert und der
Fluss seine Arterien geweitet.
Víctor Carpio bezeichnet Vilcabamba als »Zentrum für Herzimmunisierung« und »Beet des langen Lebens«. Die Einheimischen hätten
alle ein gesundes Herz, behauptet er, und wer herzkrank das heilige Tal aufsuche, gesunde mit der Zeit. Wenn ich ihm nicht
glaubte, solle ich ins Zeitungsarchiv gehen und nachlesen, wie Nadao Kimura, der persönliche Assistent des ehemaligen Premierministers
von Japan, Nakasone Yasuhiro, völlig geschwächt |73| in Vilcabamba eintraf. Nach wenigen Schritten bekam er keine Luft mehr, sein Herz sei erschöpft gewesen. Die Herzinsuffizienz,
gegen die man in Tokio nichts ausrichten konnte, sei in Vilcabamba innerhalb von achtunddreißig Tagen kuriert worden. Kimura
sei darüber so glücklich gewesen, dass er den damaligen
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