Das Tal der Hundertjährigen
irgendeine Wirkung. Und dann ist da ja noch sein Diabetikerfuß. Er sah mit jedem Tag schlimmer aus,
so dass einer der Chirurgen der Ansicht war, man solle ihn abnehmen. Er könne ein Infektionsherd sein, und es sei besser,
das gesamte kranke Gewebe zu entfernen.
Hals über Kopf verlasse ich Vilcabamba.
Beim Abschied fragt mich Merci Jaramillo, die Angestellte des Madre Tierra, ob ich mit irgendetwas nicht zufrieden gewesen
sei. Sie sei überrascht wegen meines überstürzten Aufbruchs und mache sich Sorgen. Ich erzähle ihr von meinem kranken Vater,
den ich nicht seinem Schicksal überlassen möchte. Das verstehe sie gut, sagt |78| Merci. Sie habe ihren Großvater auch sehr gern gehabt, und als er starb, sei sie unendlich traurig gewesen, obwohl er schon
einhundertneunundzwanzig war.
»Mein Vater wird nicht sterben. Es gibt Komplikationen, weiter nichts. Außerdem ist er erst sechsundachtzig. Verglichen mit
Ihrem Großvater fast noch ein kleiner Junge.« Ich versuche ein Lächeln, das mir offenbar nicht überzeugend gelingt.
»Verzeihung«, sagt Merci, »aber weil Sie abreisen, dachte ich, es sei etwas Ernstes …« Sie blättert in einem Stapel Dokumente,
findet schließlich, was sie gesucht hat, und reicht mir die Papiere über den Empfangstresen. Sie habe übrigens schon einen
Termin mit dem Pfarrer ausgemacht, sagt sie, und außerdem wolle Carol mich kennenlernen.
»Carol?«, frage ich erstaunt.
»Carol Rosin, die Besitzerin.«
Sie deutet mit dem Kopf auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Ich folge ihrem Blick: Eine Frau mittleren Alters mit knallrotem
Mund, sehr weißer Haut und platinblondem Haar sieht mich an. Sie hat etwas Wildes an sich. Aber auf eine elegante Weise. Vielleicht
bilde ich mir das auch nur ein.
»Ist sie hier?«
|79| »Nein, sie kommt erst in ein paar Tagen wieder.«
»Dann müssen wir das Treffen wohl bei anderer Gelegenheit nachholen.« Bedauernd zucke ich mit den Schultern. »Jetzt muss ich
leider los, vielen Dank für alles, Merci.«
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Bevor ich in die Klinik zu meinem Vater fahre, will ich bei meiner Mutter vorbeischauen. Ich weiß, wie sehr sie sich immer
sorgt, wenn er im Krankenhaus ist. Da inzwischen weder meine Mutter noch mein Vater mehr in der Lage sind, sich selbständig
fortzubewegen, halten sie sich meistens im selben Zimmer auf, Tag und Nacht, und das seit zehn Jahren. Mich würde das zur
Verzweiflung bringen, sie empfinden das als normal.
Etwas müssen sie richtig gemacht haben, denn sie sind nach all der langen Zeit immer noch ein Paar. Manchmal hört man um drei
Uhr morgens Geräusche aus dem Zimmer meiner Eltern. Die Pflegerin eilt zu ihnen, um nachzusehen, ob sie etwas benötigen, doch
sie unterhalten sich lediglich.
»Ihr Vater lässt Ihre Mutter nicht schlafen. Und morgens wollen sie nicht aufstehen.«
Ist das wirklich ein Problem?
Wenn einer von beiden nicht schlafen kann, wacht der andere auf, und sie beginnen ein endloses |81| Gespräch, ich vermute, dasselbe wie seit vielen Jahren. Sie gehen die komplette Familie durch: die Kinder, die Angeheirateten,
die Cousins und Cousinen, die Eltern, die Onkel und Tanten. Die meisten Begegnungen liegen schon Jahre zurück, und einen Großteil
der Verwandtschaft werden sie wahrscheinlich nie mehr sehen, er lebt für sie nur noch in den vergangenen Geschichten, und
dorthin kehren sie so oft wie möglich zurück, dafür muss man nicht laufen können.
Selbstverständlich haben sie auch nie aufgehört zu streiten, das Beschwerdebuch liegt stets aufgeschlagen auf dem Tisch. Doch
immer sind sie dabei aufeinander bezogen, immer hat man das Gefühl, dass sie sich selbst dann sehr nahe sind.
Ich habe zwar einen Hausschlüssel, doch zur Vorwarnung klingele ich – es weiß ja niemand, dass ich komme. Die Pflegerin öffnet
die Tür.
Im Wohnzimmer steht ein Laufstall, in dem ein mir unbekannter kleiner Junge sitzt. Zwei massive, mir ebenso unbekannte Damen
haben es sich in den Sesseln bequem gemacht und schauen gemütlich bei Tee und Gebäck eine Telenovela. Aus einem anderen Raum
dringt lautes Babygeschrei.
»Ich habe Besuch«, erklärt die Pflegerin, als sie meinen fragenden Blick gewahrt. »Ihre Mutter war einverstanden, dass ich
meine Schwester und meine |82| Schwägerin hierher einlade … Aber sie müssen ohnehin gleich gehen.«
Die Schwester wirft mir einen Blick zu, als wäre ich der Störenfried und unerlaubt in ihre Damenrunde
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