Das Tal der Hundertjährigen
eingedrungen.
»Wo ist meine Mutter?«
»In ihrem Zimmer, sie hat bis eben mit meinen Neffen gespielt. Ihre Mutter mag die Kinder sehr, glaube ich.«
Bevor ich die Atmosphäre mit meinem Missmut aus dem Gleichgewicht bringe, gehe ich zu meiner Mutter. Zur Begrüßung drücke
ich ihr einen Kuss auf die Wange.
»Warst du nicht in Ecuador?«
»Doch, aber ich bin zurückgekommen, um zu sehen, was mit Papa los ist.«
Sie sieht mich ganz niedergeschlagen an, schließt die Augen und lässt das Kinn auf die Brust sinken. »Geht es ihm so schlecht?«
»Ich weiß nicht, ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus … Was haben eigentlich all diese Leute hier zu suchen?«
Meine Mutter zuckt mit den Achseln und gibt mir zu verstehen, dass sie nicht mehr die Herrin im Haus ist. Sie kann ihren Mann
nicht begleiten, darf nicht mehr entscheiden, was auf den Tisch kommt oder wer ihre Wohnung betritt. Selbst auf dem kurzen |83| Weg zur Toilette benötigt sie Hilfe, und sie ist darauf angewiesen, dass man sie gut behandelt, wenn sie mit der Pflegekraft
allein ist.
Nur an manchen Tagen begehrt sie auf. Das sind die Tage, an denen sie sich weigert, ihre Medikamente zu nehmen. Alle zwei
oder drei Wochen lässt sie für vierundzwanzig Stunden nicht mit sich reden. Wenigstens für einen Tag hat sie dann wieder das
Sagen.
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Die Frau, die ich liebe, ist sauer auf mich. Und das Schlimme ist: zu Recht. Sie versteht nicht, dass ich alleine zu meinem
Vater will. Ich erkläre ihr, dann gehe es schneller, und außerdem sei der Besuch bei meinem Vater alles andere als erhebend.
»Ich will dir das ersparen«, sage ich.
Sie erwidert, wenn es ihr im Leben nur um das Vergnügen ginge, wäre sie mit einem Clown liiert, und ich solle mir nicht immer
ihren Kopf zerbrechen, sie sei erwachsen und könne gut selbst auf sich aufpassen.
»Sag bloß, das Leben mit mir ist kein Vergnügen?«
Offensichtlich nicht. Mein gezwungener Scherz misslingt gründlich. Ich lasse sie dennoch im Wartezimmer zurück und eile zu
meinem Vater.
Mein Vater ist verzweifelt. Er wirft seinen Kopf auf dem Kissen hin und her, die Decke hat er mit den Beinen von sich gestoßen.
Ich erschrecke: Seine Beine sehen aus wie Knochen in Pergamentpapier. An der Ferse hat er eine offene Stelle, er hat |85| sie sich am Laken wund gerieben. Er versucht, die Sonde aus seiner Nase herauszuziehen und die Sauerstoffmaske abzustreifen.
Die Schwester verlangt nach Unterstützung. Mein Vater hat seit drei Nächten nicht geschlafen.
»Ich kann nicht mehr. Hol mich hier raus!« Mit diesen Worten begrüßt er mich.
Ich bitte ihn, er möge sich beruhigen, und wende mich zum Gehen.
»Ich werde mit dem Arzt sprechen und …«
»Warte!« Mein Vater reißt die Augen auf und schnaubt wütend. »Ich muss mit dir reden. Ich will mein Leben von Grund auf verändern
… So wie du vor ein paar Jahren. Ich will am Meer leben. Wo auch immer, Hauptsache, es gibt ein Dialysezentrum. Ich will ein
kleines Appartement mit Meerblick.«
»Schön, Papa, aber jetzt musst du erst mal wieder auf den Damm kommen.«
»Nichts da!«, brüllt er. Dann senkt er erschöpft die Stimme. »Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Ich fühle mich eingesperrt.«
»Papa, wie um alles in der Welt soll ich dich so ans Meer bringen?«
»Du machst das schon. Du hast so viele Dinge im Leben getan, die andere für unmöglich gehalten haben. Bring mich fort von
hier!«
|86| In meinem Kopf rattert es. Ich könnte es tun. Alles eine Frage der Organisation. Ich vermiete seine Wohnung und suche für
weniger Geld eine andere an der Küste. Im Dialysezentrum bitte ich um Verlegung, das ist nicht unüblich, schließlich machen
auch Dialysepatienten mal Urlaub. Mir kommt ein anderer Gedanke: Ich verkaufe die Wohnung und setze mich mit ihm ins Flugzeug
nach Vilcabamba. Dort hätte er noch viele schöne Jahre in Aussicht, und irgendwann, wenn ich fünfundneunzig bin, würde ich
ihn immer noch mit Freuden pflegen. Bin ich ihm das nicht schuldig? Er hat mir das Leben geschenkt, und jetzt verlangt er
etwas davon zurück.
Doch die Wirklichkeit holt mich schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. In Vilcabamba gibt es kein Dialysezentrum
– mangels Patienten. Ecuador ist somit vom Tisch. Und was die Küste angeht: Meine Mutter wäre niemals bereit, ihre gewohnte
Umgebung zu verlassen, und sie hat immerhin fünfzig Prozent Mitspracherecht. Das Seltsame ist, dass ich an den gesunden
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