Das Tal der Hundertjährigen
will es unbedingt allein schaffen. Auch Víctor
fällt es nicht leicht, bergauf zu gehen, aber er hat ein sonniges Gemüt. Nach einer halben Stunde bekomme ich deutlich zu
spüren, dass ich für eine solche Tour nicht richtig ausgerüstet bin.
Ich habe nicht das entsprechende Schuhwerk und finde keinen Halt mehr, sobald der Boden etwas feuchter wird. Leise fluchend
stelle ich außerdem fest, dass der Rucksack ungleichmäßig bepackt ist; er zieht an dem einen Riemen mehr als an dem anderen.
Ich habe weder Wasser dabei noch eine Kopfbedeckung, und die Sonne brennt. Die Hose ist zwar grundsätzlich geeignet, doch
sie ist mir ein wenig zu groß und rutscht. Gleichzeitig wird der Weg immer steiler. Ich lege eine kurze Verschnaufpause ein
und schaue hinunter zu Timoteos Haus.
»Wie hoch ist denn der Berg?«
»Über zweitausend Meter«, erwidert der Enkel. »Und er steigt jeden Tag hier hinauf?«
»Ja, er will das so.«
Im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie habe ich einmal gelesen, dass für Menschen, die in Hochlagen leben, die Zeit langsamer
verstreicht als |133| für Menschen, die am Meer wohnen. Es wurde das Beispiel eines Zwillingspaars angeführt: Einer lebte am Wasser, der andere
in den Bergen – Letzterer alterte langsamer. Warum? Weil die Zeit nicht absolut ist, sie vergeht langsamer, je weiter man
vom Erdmittelpunkt entfernt ist. Aber da das nicht mehr als den Bruchteil einer Sekunde ausmachen dürfte, kann auch das nicht
als Erklärung dienen, warum der alte Timoteo so fit ist.
Auf Knien kriechend und mich an den Büschen festklammernd, kämpfe ich mich die letzten Meter hoch. Das Gelände ist abschüssig,
ständig rutsche ich ab. Nirgendwo ein Stein, der als Stufe dienen könnte. Am besten setze ich mich auf den Hosenboden, stütze
mich mit den Fersen ab und arbeite mich rückwärts nach oben. Als ich den Rucksack absetze, kullert er bergab. Zum Glück ist
Víctor in der Nähe und kann ihn abfangen. Ich gehe keinen Schritt weiter, so viel steht fest.
Plötzlich entdecke ich in etwa zwanzig Meter Entfernung einen Filzhut im Dickicht. Timoteo pflanzt Bohnen. Víctor ruft ihn,
der alte Mann hebt den Kopf und winkt uns fröhlich zu. Achtundneunzig Jahre. Unfassbar. Auf seinen Stock gestützt steht Don
Timoteo da und freut sich über den unerwarteten Besuch.
Sofort will er sich zu uns gesellen. Mit flinken |134| Schritten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, kommt er herüber. Ehe ich mich versehe, steht er neben mir. Sein Atem geht
kein bisschen schneller.
Timoteo Arboledo ist auf seinem Berg wie ein Trekking-Lehrer unterwegs. Er trägt ein himmelblaues Hemd und eine graue Hose,
sein Bart ist graumeliert, auf der Oberlippe noch gänzlich schwarz. Timoteo begrüßt mich mit festem Händedruck – das war mir
schon bei anderen Hundertjährigen aufgefallen: Keiner von ihnen zittert.
»Wie geht’s, Don Timoteo?«
»Bestens, ich freue mich, dass ihr da seid. Mir tun ein wenig die Knöchel weh, aber es lässt schon nach.«
»Arbeiten Sie jeden Tag?«, frage ich.
»Nein, ich arbeite nicht mehr. Ich kümmere mich nur noch um meine Sachen.«
Wie für alle hier heißt »arbeiten« auch für ihn, sich als Tagelöhner zu verdingen. Oder sich an der »Gemeinschaftsarbeit«
zu beteiligen: Die Bewohner versammeln sich auf dem Feld des einen, dann auf dem des Nächsten und immer so fort, bis alle
Felder bestellt beziehungsweise abgeerntet sind. Dieses Jahr haben sie Timoteo nicht gefragt, er fühlt sich zurückgesetzt.
Aber er besteigt hartnäckig jeden Tag seinen Berg, morgens hinauf auf zweitausend Meter Höhe und am Nachmittag wieder |135| retour. Was er anbaut – Yucca, Zwiebeln, Bohnen –, benötigt er für seinen Lebensunterhalt.
In Vilcabamba setzt sich niemand zur Ruhe. Wenn bei uns in der Stadt ältere Menschen Sport treiben, tun sie das meist auf
Rat eines Kardiologen. Nicht so in Vilcabamba, hier müssen sie arbeiten, auch die Hundertjährigen, um etwas zu essen zu haben.
Timoteo erzählt mir, dass er die Unterstützung der Regierung, den sogenannten Bonus, nicht mehr bekomme. Es sei zwar nicht
viel gewesen, aber doch ein wichtiger Bestandteil der Haushaltskasse. Man hat ihn einfach von der Liste gestrichen. Anderen
Hundertjährigen ist es genauso ergangen. Wenn die Behörden routinemäßig das Alter der Empfänger überprüfen, wirft das Computerprogramm
sie raus. Gesetzlich sind sie tot. Ähnlich ist es mit den Lebensmitteln der
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