Das Tal der Hundertjährigen
Kirchengemeinde. Einmal hat man ihn bedacht, aber
danach gehörte er nicht mehr zu den Begünstigten.
»Jetzt leihe ich mir etwas bei meinen Kindern.«
Timoteo steht jeden Tag um sechs Uhr auf, und bevor er den Berg hochsteigt, trinkt er seinen Kaffee und gönnt sich einen Chamico.
Manchmal auch noch einen Puro.
»Ich mache das nicht, um mich zu betrinken, der Puro ist für mich wie Medizin.«
|136| Ich schmunzele. Jemand in seinem Alter und in dieser körperlichen Verfassung muss sich nun wirklich nicht rechtfertigen.
Als wir uns verabschieden, bitte ich Lenin, noch ein Foto von Don Timoteo und mir zu machen. Ich versuche, aufrecht stehen
zu bleiben. Es gelingt mir nicht. Lenin bietet mir seine Hilfe an. Nach einem erfolglosen Versuch übergebe ich ihm das Stativ
und hebe einen Stock vom Boden auf, der mir als Stütze dienen soll. Wie der von Timoteo Aboledo.
Ich merke jetzt, wie erschöpft ich bin. Doch um den Abstieg komme ich nicht herum. Timoteos Enkel führt uns. Ich konzentriere
mich ganz auf den Weg, auf meine Schritte. Aus Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, traue ich mich nicht, mich umzudrehen
und Timoteo noch einmal zu winken.
Das muss sie sein, die Angst, von anderen abhängig zu sein, zurückzubleiben, zu fallen; die Angst, alt zu werden.
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Wasser reinigt von innen, es erfrischt und spült die Giftstoffe aus dem Körper – das mag so sein. Allerdings habe ich den
Eindruck, dass die Gesundheitsapostel nicht mehr auf den Durst als natürlichen Regulationsmechanismus vertrauen; als ob allein
die Erkenntnis, dass man mindestens zwei Liter Wasser am Tag trinken soll, das Schicksal der Menschheit verändern könnte.
Den Flüssen von Vilcabamba werden heilende Kräfte zugeschrieben. Viele Ausländer baden darin, damit das wohltuende Nass durch
ihre Poren dringt und ihnen ewiges Leben schenkt. Sie bedenken dabei nicht, dass zwischen ihnen und ihrem Traum eine Schutzschicht
existiert – die Haut –, die nicht unbegrenzt Wasser hindurchlässt.
Das örtliche Mineralwasser wird aus einer unterirdischen Quelle gewonnen und ist das Aushängeschild für ein langes Leben.
Wer dieses reine, in Flaschen abgefüllte Wasser trinkt, kann gesund und |138| munter seinem hundertsten Geburtstag entgegensehen. Klingt wie ein Werbegag.
Ich schaue mir die Zusammensetzung des Wassers an. In der Abfüllhalle hatte man mir einen ausführlichen Prospekt dazu überreicht.
Auf den ersten Blick zumindest scheint sich das Wasser nicht wesentlich von anderen zu unterscheiden: wenig Natrium, Bikarbonate
und Sulfate, hoher Magnesiumanteil – nichts Weltbewegendes.
Schade, auf das Wasser hatte ich gesetzt.
Es bringt mich auch nicht weiter, einen Hundertjährigen nach dem anderen zu befragen. Sie wissen nicht, warum sie ihr hohes
Alter erreicht haben, sie haben es eben einfach erreicht.
Aber Doña Herminia möchte ich doch treffen. Mit achtundsechzig hat sie zum ersten Mal geheiratet, ihre Ehe währte knapp ein
Jahrzehnt. Jetzt ist sie seit zwanzig Jahren Witwe und schließt es nicht aus, noch einmal einen Versuch zu wagen.
»Warum nicht? Das hängt von dem Kandidaten ab.«
Hört sich erst einmal abwegig an. Andererseits: Wenn man sieht, wie sie mit der Hacke umgeht oder lauthals über Víctors Bemerkungen
lacht, spürt man, wie viel Leben in ihr ist. Doña Herminia ist ausgelassen wie ein junges Mädchen. Das lange weiße Haar trägt
sie locker zu einem Pferdeschwanz |139| gebunden. Aufmerksam verfolgt sie das Gespräch, immer zu einem Scherz bereit.
»Doña Herminia, ich würde gerne ein Foto von Ihnen bei der Arbeit machen.«
Doña Herminia springt auf und hat sogleich das Werkzeug bei der Hand. Lächelnd posiert sie mit erhobener Hacke wie ein Model.
»Gehen Sie in die Kirche, Doña Herminia?«
»Sonntags. Ich will mich ja schließlich gut mit dem Priester stellen.«
Auch das Enfant terrible von Vilcabamba, Segundo Guerra, möchte ich mir aus der Nähe ansehen.
Er genießt nicht gerade den besten Ruf im Dorf. Man sieht ihn oft Chamico rauchend auf seinem Esel reiten oder mit einer scharfen
Sichel durch den Ort spazieren – wenn er eines nicht ist, dann der weise, sanftmütige Alte aus dem Märchen.
An einem Nachmittag ist er auf dem Platz unterwegs und sucht jemanden, der ihn mit dem Auto zu seiner Finca bringt. Segundo
Guerras Haus liegt etwa zehn Kilometer vom Zentrum entfernt, und an dem Tag ist er zu Fuß ins Dorf gekommen. Drei Leute hat
er
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