Das Tal der Hundertjährigen
Fuß. Erst dann bekomme ich eine Antwort.
»Ja.«
Nicht gerade eine Plaudertasche, dieser Meneses. Víctor hatte mir gesagt, wo ich ihn finden kann – was nicht weiter schwierig
war, denn Meneses unterhält ein Lokal neben der Bar El Punto. Sozusagen mitten in der Hippie-Zone, wo sich aber auch die jüngeren
Touristen aufhalten.
Unser Gespräch will nicht so recht in Gang kommen. Auf meine Fragen antwortet Meneses einsilbig und dehnt die Worte, als täte
er mir einen ungeheuren Gefallen, sich überhaupt mit mir zu befassen. Ich vermag diese ablehnende Haltung zunächst nicht zu
deuten.
Meneses ist groß und schlank und trägt sein langes Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Ich schätze ihn auf höchstens fünfunddreißig,
aber |120| vielleicht liegt das auch an der Kleidung: schmale Brille mit dickem, buntem Gestell, Pumphosen und ausgelatschte Sandalen.
Eigentlich würde man ihn für einen relaxten, friedfertigen und liebenswürdigen Zeitgenossen halten. Doch in Meneses gärt es.
Meneses ist Fachmann für traditionelle Naturheilkunde. Er hat sich in Ecuador und anderen Ländern ausgiebig mit den Heilpraktiken
der Andenregion und des Urwaldes vertraut gemacht. Er kennt jedes Naturelement, weiß, welches der Reinigung und welches der
Verbesserung des Energiehaushaltes dient, wie man sein inneres Gleichgewicht wiederherstellt. Lange Jahre war er Schüler bei
legendären Schamanen; von ihnen hat er die Lebensform übernommen, die er heute selbst an seine Anhänger weitergibt. Er ist
berühmt, und viele Ausländer kommen nach Vilcabamba, nur um ihn kennenzulernen.
Ihm steigt die Galle hoch, wenn Leute ihn aufsuchen, weil sie denken, er sei ein Drogendealer. »Meister, haben Sie Drogen?«
– diese Frage muss sich gerade er, der sich darauf versteht, Körper und Geist in Einklang zu bringen, tatsächlich immer wieder
gefallen lassen!
»Die Leute sind völlig auf dem Holzweg. Ich betreibe eine uralte Wissenschaft, das ist kein Hokuspokus. |121| Bevor ich irgendeine Naturmedizin verordne, erstelle ich eine ausführliche Diagnose. Zuallererst muss man herausfinden, ob
die Krankheit mit der Erde, mit der Seele oder mit den Geistern zu tun hat. Die Behandlung erfolgt dann mit unterschiedlichen
Reinigungszeremonien.«
»Haben Sie Erfolg mit Ihren Behandlungsmethoden?«
»Ja, ich habe als Schamane regen Zulauf.«
Meneses behandelt seine Patienten meist mit »San Pedro«, einem Trunk, der aus frischen Andenkaktus-Stücken hergestellt wird
und halluzinogene Wirkung hat. Wie Meneses sagt, kann man nach dem Genuss des Getränks in einem Zustand der Bewusstseinserweiterung
seinen eigenen Geist und Körper beobachten.
»Es sind kollektive nächtliche Zeremonien, mit Bädern, die sich über eine ganze Nacht erstrecken und von jemandem angeleitet
werden müssen, der sich gut mit der Wirkung des Kaktus auskennt.«
Das ist bei Meneses der Fall. Im Wesentlichen, bestätigt er, geht es bei diesen Zeremonien um Selbsterfahrung. Irgendwie ist
das wohl nichts für mich.
Von der anderen Straßenseite her ruft mich Lenin. Ich verabschiede mich von Meneses und laufe zu seinem Jeep hinüber.
|122| »Das ist der Schamane für die Amis. Wenn du willst, stelle ich dir Manuel Rivas vor. Zu dem gehen die Einheimischen.«
Wenn ich gewusst hätte, in was ich da einwilligte …
Manuel Rivas besitzt zwei Häuser, was er mir gleich erklärt: Während der Heilungszeremonien muss er immer sehr viel trinken
– »aus rituellen Gründen«. Und wenn mehrere Patienten in Folge kommen, ist er am Ende so sturzbetrunken, dass seine Frau ihn
aus dem Haus wirft. Doch weil ein Verzicht auf seine Tätigkeit als Schamane nicht in Frage kommt, haben sie in gegenseitigem
Einverständnis eine zweite Bleibe für Don Manuel gesucht.
Ein ganz modernes Paar.
Lenin erklärt Manuel Rivas, wer ich bin und dass wir sozusagen im selben Metier arbeiten.
»Sie sind also Arzt?«, fragt er.
»Ja … Und Sie können mich behandeln?«
Zufrieden streicht er über seinen dicken Bauch und überlegt. Dann nimmt er die Baseballkappe ab, fährt sich durch das Haar
und erwidert: »Gut, ich helfe Ihnen, und Sie helfen mir.«
Wir sitzen im Innenhof des Hauses. Seine Frau – um die sechzig, rote Hose, graues T-Shirt und eine |123| ähnliche Kappe wie ihr Mann auf dem Kopf – fährt unbeirrt mit ihrer Hausarbeit fort, als ob unser Besuch sie nicht interessierte.
Dennoch fällt mir auf, dass sie nie außer Hörweite ist.
Ich
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