Das Tal der Hundertjährigen
frage, wie ich ihm helfen kann, und gehe davon aus, dass er Geld will.
Lenin vermutet, dass der Schamane bestimmt Medikamente tauschen wolle. Ob ich ihm nicht etwas von der Medizin überlassen könne,
die ich bei mir habe? Im Gegenzug würde Don Manuel mich heilen und mit ein paar Heilkräutern versorgen.
Meine Reiseapotheke ist gut bestückt, ich könnte dem Schamanen durchaus etwas abtreten. Aber es behagt mir nicht, einem Heiler
Medikamente zu überlassen, ohne zu wissen, wem er sie unter welchen Umständen verabreicht.
Rivas kommt mir mit einer Antwort zuvor: Nein, darum ginge es nicht, und auch nicht um Geld. Aber wenn er Hand anlegen solle,
dürfte ich mich später auch nicht drücken.
Ich versuche rasch die Lage einzuschätzen. Im Notfall könnte ich fliehen, auf Lenin und seinen Jeep ist Verlass. Der Schamane
ist ziemlich alt, an Kraft müsste ich ihm überlegen sein, doch in Vilcabamba weiß man nie. Außerdem hat er womöglich eine
Waffe. Warum rückt er nicht damit raus, was er will?
|124| Ich erkläre mich einverstanden, und im nächsten Augenblick gibt mir Don Manuel ein Hühnerei, das ich in der geschlossenen
rechten Hand halten soll. Ob es sich um ein rohes oder ein hartgekochtes Ei handelt, verrät er nicht. Ich habe Sorge, zu fest
zuzudrücken. Er verschwindet im Haus und kehrt zurück mit einem Glas in der Hand, das mit einer trüben gelblichen Flüssigkeit
gefüllt ist.
Das ist mir nicht geheuer. Warum tue ich mir das an? Mir fehlt doch eigentlich gar nichts … Das Rätsel des langen Lebens löse
ich auf diese Weise sicher nicht. Es ist immer noch früh genug, die Behandlung abzubrechen.
Ich bitte ihn, er möge doch zuerst kosten; dann nippe ich vorsichtig an dem Glas – das muss reiner Alkohol sein. Ich reiche
Rivas das Getränk wieder, er stürzt den Rest auf einen Zug herunter. Erst jetzt, nachdem er glaubt, wir hätten den Inhalt
des Glases brüderlich geteilt, sind wir auf einer Wellenlänge, und das Ritual kann beginnen.
Er fasst verschiedene Zweige und Pflanzenstängel zu einem Bündel zusammen und streicht damit über meinen Körper. Dann wirft
er das Bündel auf den Boden und sagt, ich solle mit den Füßen darauf herumtrampeln. So weit, so gut. Anschließend hebt er
das Bündel wieder auf und lässt es mehrfach auf meinen Kopf niedersausen.
|125| Als Lenin mein Gesicht sieht, fühlt er sich zu einer Erklärung genötigt.
»Zwei Arbeitskollegen von mir hat er wieder auf Trab gebracht. Die Ärzte wussten nicht mehr, was sie tun sollten. Manuel hat
dafür gesorgt, dass sie wieder aufstehen konnten und schmerzfrei waren.«
»Ja«, bestätigt der Schamane, »darauf verstehe ich mich. Das hat mir niemand beigebracht, ich genieße gewissermaßen Schutz
von oben … Und deshalb werden jetzt Sie mir helfen.«
Ich überlege: Eine Sitzung bei einem autodidaktisch ausgebildeten und göttlichen Beistand genießenden Schamanen im Tal der
ewigen Jugend – das hat gewiss seinen Preis.
Manuel Rivas ruft seine Frau, und sie ist sofort zur Stelle.
»Es geht um sie«, sagt er.
Langsam macht mich die Geheimniskrämerei unruhig. Mir schwant nichts Gutes.
»Nun verraten Sie schon, was Sie wollen.«
»Behandeln Sie bitte meine Frau. Sie kann nachts nicht mehr schlafen. Sie hat Schmerzen an den Hüften und an der Wirbelsäule.«
»So ist es, Doktor«, schaltet sie sich ein und zeigt mir, wo sie die Schmerzen verspürt.
»Ist Ihr Mann denn nicht Spezialist für genau |126| diese Dinge? Die Leute treten doch eigens den weiten Weg aus den Bergen an, um ihn zu konsultieren!«
»Doktor, ich bitte Sie.«
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An der Rezeption des Madre Tierra nehme ich eine Nachricht in Empfang, die mich das Schlimmste befürchten lässt.
»Bitte dringend bei Ihren Eltern anrufen.«
Mir jagt ein Schauer über den Rücken, ähnlich fühle ich mich, wenn sehr spät abends noch das Telefon klingelt. Zum Glück habe
ich gleich eine sehr patent wirkende Krankenschwester an der Strippe. Die Pflegerin meiner Eltern hat das Handtuch geworfen.
Von jetzt auf gleich, die Schwester war gerade da, um die Werte zu kontrollieren.
»Was ist denn vorgefallen?«
»Ihre Mutter hat die Medikamenteneinnahme verweigert, woraufhin die Dame meinte, dass sie dann wohl überflüssig sei.«
»Und was hat meine Mutter geantwortet?«
»Sie könne jederzeit gehen.«
»Und?«
»Sie hat ihre Sachen genommen und ist gegangen.«
|128| Ich seufze, und noch bevor mir etwas Schlaues zur
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