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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricardo Coler
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hat, dass ich ihre Frage auf Umwegen beantwortet habe. Doch dann kehrt
     sie plötzlich zurück, lehnt sich gegen die Wand und sieht mich mit großen Augen an.

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    |162| 32
    Die Betreuerin sitzt neben dem Bett. Hin und wieder streichelt sie seinen Kopf und spricht mit ihm. Sie wirkt wie ausgewechselt,
     keine Spur mehr von Verzweiflung und Klage.
    »Er hat gut gegessen«, sagt sie, »heute hat er gut gegessen.« Sie deutet auf ein paar Pflanzen, die sie von zu Hause mitgebracht
     und in einen Kasten gestellt hat, den man vom Bett aus sehen kann. »Damit er mal was Buntes sieht, sonst starrt er ja nur
     auf den Fernseher oder die Wände.«
    Vom Schlafzimmer meiner Eltern aus hat man einen direkten Blick auf einen Platz, der den einen Flaniermeile ist, den anderen
     Kinderspielplatz. Hund und Herrchen drehen dort ihre Runden, und manchmal finden auch politische Aufmärsche statt. Meine Mutter
     freut sich, dass ich nicht allein gekommen bin. Mein Vater hat nur kurz die Augen aufgeschlagen und dann weitergeschlafen,
     als wären wir gar nicht da. Seit er die Medikamente einnimmt, ist wieder Ruhe im Haus eingekehrt. Er |163| wacht nachts nicht mehr auf und stellt nicht ständig irgendwelche Forderungen.
    Während wir uns unterhalten, massiert die Betreuerin seinen Hals. Er kommt mir vor wie ein müder Boxer. Das Tragische ist,
     dass er nur noch einen letzten Gegner hat. Einen, den er nach Punkten besiegt hat, der ihn aber mit einem unfairen Knockout
     niederstrecken wird. Und er wird im Ring liegen und nicht einmal mehr die Glocke hören.
    Er öffnet die Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Mann, der mich wortlos anschaut, tatsächlich mein Vater ist. Die Schwester
     wird nicht müde zu betonen, wie gut ihm die Beruhigungsmittel tun. Ich könne mir nicht vorstellen, wie sehr er sich verändert
     habe.
    Ja, er hat sich verändert. Er liegt da, betäubt, kann sich kaum rühren, versucht, wach zu werden. Doch die Pillen fesseln
     ihn ans Bett. Ich werde dafür sorgen, dass man die Dosis reduziert.
    Dieser Mann ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften, ein Amateur-Cineast, Tenor und Comic-Schreiber, ein Leutnant der Reserve,
     ein Tänzer, ein Lieblingssohn.
    Und mein Vater.

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    |164| Schlussgedanken
    Es gibt ein Tal in Ecuador, das seinen Bewohnern vierzig Jahre mehr Leben schenkt. Niemand weiß, woher diese Jahre genommen
     werden, wie man an sie herankommt. Doch es gibt sie. Die lebenden Beweise dafür laufen in beneidenswert guter Verfassung im
     Dorf herum, nehmen aktiv an der Gemeinschaft teil, beackern ihr Land, gehen ihren Tätigkeiten nach.
    Menschen, denen die Aussicht auf Alter und Tod panische Angst bereitet, bringt das Wissen um diese Möglichkeit, die man nicht
     nutzen kann, da bisher der Schlüssel zu ihrem Geheimnis fehlt, schier zur Verzweiflung. Man sucht nach Erklärungen. Eine gute
     Erklärung muss nicht wahr sein, es genügt, wenn sie glaubwürdig ist. Wichtig ist nicht, wie sie lautet, sondern dass sie beruhigt.
    Die Gesundheitsfanatiker behaupten, in Vilcabamba würde man so lange leben, weil die Bewohner des Tales sich gesund ernährten,
     körperlich betätigten und reine Luft atmeten. Wenn sie die |165| betagten Herrschaften rauchen oder trinken sehen, joggen sie schnell vorbei.
    Eine Reihe von Organisationen predigt die Selbstkasteiung und mahnt mit einem ganzen Katalog an Verhaltensmaßregeln zu mehr
     Disziplin. Iss dies nicht, tu jenes nicht. Wer den Anweisungen nicht folgt, sich nicht an die Vorschriften hält, muss wissen,
     dass er einsam und allein in die Todeszelle marschiert. Und zwar früher als nötig.
    Bis jetzt geben die ernstzunehmenden Gesundheitsstudien ihnen recht. Die Prävention funktioniert. Doch die Prävention schlägt
     zuweilen in Perversion um. In Vilcabamba kasteit sich niemand. Hoffentlich versteht die Menschheit, wenn sie eines Tages in
     den Genuss der geschenkten Jahre kommt, diese entsprechend zu nutzen.
    Sollte man »das Beet des langen Lebens«, wie Víctor es nennt, tatsächlich ausfindig machen, wird es erbitterter zugehen als
     im Kampf um Gold oder Erdöl. Man wird um Verteilung, Beschränkungen und den Preis ringen; Machtspiele und Gesetze werden den
     Markt regeln. Unterdessen beziehen umtriebige und entschlossene Wissenschaftler, Investoren, Unternehmer, Gläubige, Lobbyisten
     und Vertreter der Medienwelt, die über das nötige Kapital verfügen, schon einmal Stellung. Sie kaufen Land.
    Die Vorstellung vom Dasein als reines Leben in

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