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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricardo Coler
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Sonst
     hat es immer geholfen, wenn ich gesagt habe, ich würde Sie rufen, aber da Sie jetzt schon so lange nicht greifbar waren …
     
    Ich gehe zu meinen Eltern.
    »Er ist sehr erregt. Er kann nicht schlafen und |157| lässt auch den anderen keine Ruhe. Ständig ruft er mich, und wenn ich nicht gleich Gewehr bei Fuß stehe, tobt er.«
    Ich betrete das Zimmer meiner Eltern. Mein Vater gibt sich alle Mühe, ruhig zu wirken. Ich bin der Einzige, der ihm Einhalt
     gebieten kann. Meine Mutter sitzt im Sessel und schläft, die Müdigkeit hat sie übermannt. Die Betreuerin wiederholt noch einmal,
     dass mein Vater ihnen keine Ruhe lässt.
    Ich verstehe.
    »Rufen Sie bitte diese Nummer an, er soll so schnell wie möglich kommen.«
    »Ist das ein Arzt?«
    »Ja, rufen Sie ihn an, dann kann ich mit ihm sprechen.«
    Mein Vater fragt, um wen es sich handelt, und ich erwidere, um einen neuen Arzt, in den ich großes Vertrauen habe.
    »Doch wohl kein Psychiater.« Schweigen. »Du darfst nicht alles glauben, was man dir über mich erzählt. Sie machen, was ihnen
     in den Kram passt. Du solltest dir selbst ein Bild machen. Glaubst du ihnen mehr als mir? Komm mal eine Woche her, eine Woche
     nur, und dann weißt du Bescheid.« Er macht eine Pause. »Du wirst ihnen doch nicht mehr glauben als mir?«
    |158| »Schon gut, Papa, aber du musst schlafen.«
    »Ich schlafe ja, ich wache nur hin und wieder auf.«
    Ich sehe zu meiner Mutter hinüber und treffe eine Entscheidung.

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    |159| 31
    Ein paar Tage später gehe ich in eine Buchhandlung mit Antiquariat; ich kenne den Besitzer, ein echter Experte in seinem Metier.
     Ich bin auf der Suche nach zwei Büchern, die ich verliehen und nie zurückbekommen habe: Geschichten über die Beziehung von
     Schriftstellern zu ihren Vätern; Geschichten, denen zwei völlig unterschiedliche Standpunkte zugrunde liegen.
    Vielleicht kann man die Beziehungen der Menschen nur begreifen, indem man sie erzählt.
    Die beiden Bände, die mein Buchhändler mir flink herausgesucht hat, sind leicht verstaubt. Ungefragt überreicht er mir ein
     weiteres Buch.
    »Kennst du es?«
    Ich betrachte das Werk in meinen Händen, eine Art Geschichte des Todes im Abendland. Nein, ich kenne es nicht, und ich gedenke
     auch nicht, es zu lesen. Ich will vom Thema Krankheit, Alter und Tod nichts mehr hören. Es gibt Grenzen.
    »Nein.«
    |160| »Nimm es mit … Wenn es dir nicht gefällt, bringst du es mir wieder.«
    Ich will den Mann nicht vor den Kopf stoßen und erkundige mich höflichkeitshalber, worum es geht.
    »Eine sehr interessante Sache …«, beginnt er. Der Autor schreibe darüber, dass der Tod heutzutage im Verborgenen stattfinde
     – im Krankenhaus oder zu Hause, jedenfalls hinter verschlossenen Türen. In der Antike hingegen seien die Sterbenden für alle
     sichtbar gewesen. Man sei öffentlich gestorben, und niemand habe das anstößig gefunden.
    Ich verlasse den Laden ohne das Buch, doch der Gedanke hallt nach. Zu einer Zeit, in der man den Tod ausstellte, fand Sexualität
     nur im stillen Kämmerlein statt. Heute ist es genau umgekehrt: Die Sexualität ist eine öffentliche Angelegenheit, und von
     Krankheit oder Tod spricht man nur hinter vorgehaltener Hand.
     
    »Kommst du mit zu meinen Eltern?«
    »Ah, jetzt also doch. Klar komme ich mit. Woher der plötzliche Sinneswandel?«
    »Ich war heute Nachmittag in meiner Lieblingsbuchhandlung, die Schule der Jungs ist gleich um die Ecke. Und da gerade Unterrichtsschluss
     war, |161| dachte ich, dass ich mal vorbeischaue. Tatsächlich habe ich sie angetroffen, sie standen mit ihren Freunden zusammen vor dem
     Tor. Die meisten kenne ich schon seit der fünften Klasse. Inzwischen sind sie alle fast erwachsen … Meine Söhne waren überrascht
     und schienen sich ehrlich zu freuen, dass ich so unverhofft aufgekreuzt bin. Doch als ich ihre Freunde begrüßt und ein wenig
     gescherzt habe, meinten sie: ›Schön, Papa, wir sehen uns dann später.‹ Kaum war ich da, wollten sie, dass ich wieder gehe.«
    »Bist du in irgendein Fettnäpfchen getreten?«
    »Nein, nicht, dass ich wüsste. Die Freunde haben sich ganz normal verhalten und mit mir gelacht. Aber meine beiden Kinder
     haben sich, glaube ich, geschämt.«
    »Warum sollten sie sich geschämt haben?«
    »Meinetwegen.«
    Sie lacht und sagt, das sei doch nachvollziehbar. Als Kind schäme man sich immer ein wenig, wenn es um die eigenen Eltern
     gehe.
    Sie verlässt das Zimmer. Ich weiß nicht, ob sie gemerkt

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